Der Joker
Es ist der zerklüftete Gipfel eines Berges, der Meilen um Meilen Buschland überblickt. Wir haben noch nicht einmal die Stadt hinter uns gelassen, da ist der Mann schon eingeschlafen.
Die Flasche entgleitet seiner Hand und der Wodka ergießt sich über ihn. Ich fahre weiter.
Ich fahre noch über eine halbe Stunde lang, erreiche die Schotterstraße, und nach einer weiteren halben Stunde, kurz nach ein Uhr morgens, sind wir da. Ich stelle den Motor ab, und wir sind allein, mitten in der Stille.
Jetzt ist es Zeit, richtig grob zu werden - oder wenigstens so grob, wie es mir möglich ist.
Ich steige aus und gehe rüber zur Beifahrerseite. Ich öffne die Autotür. Ich schlage ihm mit der Waffe ins Gesicht.
Nichts.
Ich schlage ihn noch einmal.
Fünf Mal muss ich zuhauen, bis er langsam aus seinem Dämmer auftaucht und das Blut schmeckt, das ihm aus Mund und Nase läuft.
»Aufwachen«, befehle ich.
Er stottert irgendetwas, hat keine Ahnung, wo er ist und wie ihm geschieht.
»Raus aus dem Wagen.«
Ich drücke ihm den Lauf der Pistole zwischen die Augen.
»Nur für den Fall, dass Sie sich fragen, ob das Ding geladen ist... wenn Sie es drauf ankommen lassen, wird es das Letzte sein, was Sie in Ihrem Leben tun.«
Er ist immer noch groggy, aber seine Augen werden groß. Er spielt mit dem Gedanken, mich anzugreifen, aber er ist kaum in der Lage, sich aus dem Beifahrersitz zu schälen. Schließlich schafft er es und ich schiebe ihn mit der Waffe in seinem Rücken auf dem Schotterweg vor mir her.
»Ein einziger Schuss in die Wirbelsäule«, sage ich, »und dann lasse ich Sie einfach hier liegen. Ich rufe Ihre Frau und Ihre Tochter an, damit sie herkommen und Sie ansehen
können. Und um Ihren sterbenden Körper einen Freudentanz aufführen. Wie würde Ihnen das gefallen? Oder soll ich Ihnen durch den Schädel schießen und Sie schnell sterben lassen? Sie haben die Wahl.« Er fällt hin, aber ich traktiere ihn mit meinen Knien. Am liebsten würde ich ihn mit meinen spitzen, jungenhaften Knochen zum Krüppel treten. Der Lauf der Waffe sitzt jetzt in seinem Nacken. »Haben Sie Lust zu sterben?« Meine Stimme zittert, aber ihr Klang ist hart wie Eisen. »Sie verdienen es jedenfalls, so viel ist sicher.« Ich lasse von ihm ab und belle: »Jetzt kommen Sie gefälligst auf die Beine und laufen weiter oder Sie sterben hier und jetzt!«
Da ist ein Geräusch.
Es steigt vom Boden auf.
Mir wird klar, dass es die Schluchzer des Mannes sind. Aber heute Nacht empfinde ich kein Mitleid. Ich muss ihn umbringen, denn dieser Mann bringt langsam, fast mühelos und voller Verachtung, seine Frau und seine kleine Tochter um. Und zwar jede Nacht. Und einzig und allein ich, Ed Kennedy, ein unterdurchschnittlicher Kleinstädter, habe die Möglichkeit, diese Brutalität zu beenden.
»Hochkommen! Los!« Wieder schiebe ich ihn an und wir steigen weiter hinauf, bis zum Gipfel des Doms.
Als wir die Höhe erreichen, lasse ich ihn etwa fünf Meter vom Abgrund entfernt stehen. Der Lauf der Waffe zielt auf seinen Hinterkopf. Ich stehe etwa drei Meter hinter ihm. Jetzt kann nichts mehr schief gehen.
Außer.
Ich fange an zu zittern.
Ich fange an zu schwanken.
Bei dem Gedanken daran, ein anderes menschliches
Wesen zu töten, schüttelt es mich so stark, dass ich das Gefühl habe, ein Erdbeben durchfährt mich. Die Aura, die mich vorhin umgab, ist verschwunden. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit hat mich verlassen, und plötzlich ist mir bewusst, dass ich, wenn ich die Tat vollbringe, in nichts weiter gekleidet bin als in meine eigene menschliche Zerbrechlichkeit. Ich atme. Ich breche fast zusammen.
Ich frage dich: Was würdest du tun, wenn du an meiner Stelle wärst? Sag’s mir. Bitte sag’s mir!
Aber du bist von alledem weit entfernt. Deine Finger blättern diese Seiten um, eine nach der anderen, die mein Leben irgendwie mit deinem verbinden. Deine Augen sind in Sicherheit. Diese Geschichte ist lediglich ein weiteres Kapitel in deinem Gehirn. Für mich aber ist es das Hier und Jetzt. Ich muss da durch und mir stets und ständig bewusst machen, was für einen Preis ich dafür zahlen werde. Nichts wird mehr so sein wie zuvor. Ich werde diesen Mann töten, und dann werde ich selbst sterben, und zwar innerlich. Ich möchte am liebsten schreien. Ich möchte schreien und fragen, warum das alles so ist. Die zersprungenen Sterne rieseln heute Nacht wie winzige Eiszapfen auf mich nieder, aber nicht einmal dieser Gedanke kühlt mich ab. Nichts und niemand
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