Der Judas-Code: Roman
Vater und reichte ihm ein Gewand. »Wenn etwas von der Pest ruchbar wird, werden uns alle Länder ächten. Kein Hafen wird uns aufnehmen. Jetzt aber haben wir die letzten Spuren der Krankheit mit einem reinigenden Feuer aus unserer Flotte und aus dem Wasser getilgt. Wir brauchen nur noch heimzusegeln.«
Als Marco sich das Gewand über den Kopf streifte, bemerkte sein Vater die Zeichnung, die Marco mit einem Stock in den Sand gemalt hatte. Er presste die Lippen zusammen, verwischte die Skizze mit der Ferse und blickte seinen Sohn flehentlich an. »Niemals, Marco, niemals...«
Erinnerungen aber ließen sich nicht so leicht ausmerzen. Er hatte dem Großkhan als Gelehrter, Abgesandter und sogar als Kartograf gedient und von den vielen eroberten Königreichen Karten angefertigt.
Marcos Vater ergriff wieder das Wort. »Niemand darf von unserer Entdeckung erfahren... Sie ist verflucht.«
Marco nickte, ohne eine Bemerkung zu seiner Zeichnung zu machen. Stattdessen flüsterte er: »Città dei Morti .«
Sein Vater erbleichte noch mehr. Marco aber wusste, dass ihm nicht nur die Pest Angst machte.
»Schwör mir das, Marco«, sagte er drängend.
Marco blickte in das faltenzerfurchte Gesicht seines Vaters. In den vergangenen vier Monaten war er ebenso stark gealtert wie in den Jahrzehnten, die er am Hofe des Khans in Shangdu verbracht hatte.
»Schwör mir bei deiner seligen Mutter, dass du mit keiner Menschenseele je darüber sprechen wirst, was wir entdeckt und getan haben.«
Marco zögerte.
Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte schmerzhaft zu. »Schwör mir das, mein Sohn. Um deinetwillen.«
Der Feuerschein und blanke Angst spiegelten sich in den Augen des Vaters... und inständiges Flehen. Marco konnte ihm diesen Wunsch nicht abschlagen.
»Ich werde schweigen«, versprach er schließlich. »Bis an mein Totenbett und bis ins Grab. Das schwöre ich, Vater.«
Marcos Onkel trat zu ihnen; das Gelöbnis seines Neffen hatte er zufällig mit angehört. »Wir hätten niemals bis dorthin vordringen dürfen, Niccolò«, meinte er tadelnd zu seinem Bruder; eigentlich galt die vorwurfsvolle Bemerkung jedoch Marco.
Das Schweigen war aufgeladen mit unausgesprochenen Geheimnissen.
Sein Onkel hatte recht.
Marco dachte an das Flussdelta, das sie vor vier Monaten entdeckt hatten. Die schwarze Flussmündung war von dichtem Urwald gesäumt gewesen. Sie hatten lediglich Wasser aufnehmen und an zwei Schiffen Reparaturen vornehmen wollen. Eigentlich hatte es keinen Anlass gegeben, weiter ins Landesinnere vorzudringen, doch Marco waren Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach jenseits der niedrigen Berge eine große Stadt liege. Da sie für die Instandsetzungsarbeiten zehn Tage angesetzt hatten, war er mit etwa vierzig Mann ins Gebirge aufgebrochen. Von einem Gipfel aus hatte er im Urwald einen hohen steinernen Turm ausgemacht, der von der Abendsonne beleuchtet wurde. Der Turm lockte ihn wie ein Leuchtfeuer und erfüllte ihn mit unwiderstehlicher Neugier.
Als sie sich dem Bauwerk durch den dichten Dschungel näherten, hätte ihn die Stille eigentlich warnen sollen. Es waren keine Trommeln zu hören gewesen wie jetzt. Kein Vogelgezwitscher, kein Affengeschrei. Die Stadt der Toten hatte einfach auf sie gewartet.
Die Unternehmung war ein furchtbarer Fehler gewesen.
Sie hatten dafür nicht nur mit Blut bezahlt.
Seite an Seite beobachteten sie, wie die Schiffe bis zur Wasserlinie herunterbrannten. Ein Mast kippte um wie ein gefällter Baum. Vor zwanzig Jahren hatten Vater, Sohn und Onkel der italienischen Heimat den Rücken gekehrt und waren mit dem Segen Papst Gregors X. in die Mongolei gereist, bis zum Palast des Khans und den Gärten von Shangdu, wo sie sich viel zu lange hatten mästen lassen wie Rebhühner. Als Lieblinge des Hofes waren die Polos auch Gefangene gewesen - gefesselt nicht von Ketten, sondern von der überwältigenden und erstickenden Freundlichkeit des Khans, die es ihnen unmöglich machte abzureisen, ohne ihren Wohltäter zu kränken. Deshalb freuten sie sich, als Kublai Khan sie endlich aus seinen Diensten entließ und ihnen anbot, die Prinzessin Kokejin zu ihrem persischen Verlobten zu eskortieren.
Wäre ihre Flotte doch in Shangdu geblieben...
»Die Sonne wird bald aufgehen«, sagte sein Vater. »Lasst uns aufbrechen. Es wird Zeit, dass wir nach Hause kommen.«
»Und wenn wir die gesegnete Küste Italiens erreichen, was sagen wir dann Teobaldo?«, fragte Masseo, indem er Papst Gregor X., den
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