Der Judas-Code: Roman
fallen. Gleichwohl wollte er die Verantwortung nicht länger als unbedingt nötig tragen. Seine Frau, seine Tochter... Er dachte an den aufgedunsenen Leichnam seines Kollegen. Drohte seiner Familie das gleiche Schicksal?
Ach, Maria, was habe ich getan?
Es gab nur eine Person, die ihm diese Last abnehmen konnte. Die Frau, die ihm den Umschlag geschickt hatte, eine mit einem griechischen Buchstaben versiegelte Warnung. Unter der Nachricht hatten eine Adresse und eine Uhrzeit gestanden.
Er hatte sich bereits verspätet.
Irgendwie hatte der Ägypter von dem Diebstahl erfahren und daraus geschlossen, dass Stefano ihn verraten wollte. Deshalb war er schon frühmorgens ins Museum gekommen, um den Obelisken abzuholen. Stefano war nur mit Mühe aus seinem Büro entwischt und zu Fuß geflüchtet.
Doch er war nicht schnell genug gewesen.
Er blickte sich über die Schulter um. Der Ägypter war im Touristengewimmel verschwunden.
Stefano blickte wieder nach vorn und stolperte durch den Schatten des Glockenturms, des Campanile di San Marco. Früher war dies der Wachturm der Stadt gewesen, der Ausblick auf den nahen Hafen geboten hatte. Vielleicht würde er ja auch ihn beschützen.
Sein Ziel lag jenseits einer Piazzetta. Vor ihm ragte der Palazzo Ducale auf, der Dogenpalast aus dem vierzehnten Jahrhundert. Das zweigeschossige, aus istrischem Stein und rosarotem veronesischem Marmor erbaute Gebäude mit seinen Spitzbögen lockte ihn und versprach Rettung.
Den Obelisken an die Brust gedrückt, stolperte er weiter.
Würde sie auf ihn warten? Würde sie ihn von der Verantwortung erlösen?
Er eilte dem Schatten entgegen, begierig darauf, den grellen Sonnenschein und das Funkeln des Meeres hinter sich zu lassen. Der labyrinthische Palast würde ihm Schutz bieten. Der Palazzo Ducale hatte nicht nur den Dogen als Wohnsitz gedient, sondern auch als Regierungsgebäude, Gerichtshof und sogar Gefängnis. Hinter dem Palast, auf der anderen Seite des Kanals, lag ein neueres Gefängnis, das über die berühmte Seufzerbrücke mit dem Palazzo Ducale verbunden war. Casanova war einst über diese Brücke geflüchtet, der einzige Gefangene, dem es je gelungen war, aus dem Dogengefängnis zu entkommen.
Als Stefano sich unter eine Loggia duckte, flehte er den Geist Casanovas an, ihn zu beschützen. Endlich im Schatten angelangt, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus. Im Palast kannte er sich aus. In den labyrinthischen Gängen, die für heimliche Stelldicheins wie geschaffen waren, konnte man sich leicht verlaufen.
Darauf setzte er seine Hoffnung.
Er betrat den Palast zusammen mit einer Touristengruppe durch den Westflügel. Vor ihm lag der Hof mit den beiden alten Brunnen und der wundervollen Marmortreppe, der Scala dei Giganti, der Treppe der Riesen. Stefano wollte nicht schon wieder in den Sonnenschein geraten, dem er eben erst entkommen war. Er trat durch einen kleinen Privateingang und kam durch mehrere Verwaltungsräume. Schließlich gelangte er zum ehemaligen Arbeitszimmer des Inquisitors, wo man die armen Seelen peinlichen Verhören unterzogen hatte. Ohne stehen zu bleiben ging er zur angrenzenden Folterkammer weiter.
Als irgendwo hinter ihm eine Tür zufiel, schreckte er zusammen.
Er krampfte die Hände um den Obelisken.
Die Anweisungen waren unmissverständlich gewesen.
Über eine schmale Wendeltreppe stieg er in das Palastverlies hinunter, zu den Pozzi, den berüchtigten Brunnen. Hier hatte man die gefährlichsten Verbrecher eingesperrt.
Hier wollte er sich mit der Unbekannten treffen.
Stefano dachte an das Wachsiegel.
Was sollte das bedeuten?
Er trat in den feuchten Gang, von dem finstere Steinverliese abgingen, die zu niedrig waren, als dass man darin aufrecht hätte stehen können. Hier waren die Gefangenen im Winter erfroren oder im langen venezianischen Sommer gestorben, von allen vergessen außer von den Ratten.
Stefano schaltete eine kleine Stiftlampe ein.
Die unterste Ebene der Pozzi war anscheinend menschenleer. Seine Schritte hallten von den Steinwänden wider, was sich anhörte, als ob ihm jemand folgte. Die Angst verengte ihm die Brust. Er wurde langsamer. War er zu spät gekommen? Unwillkürlich hielt er den Atem an und sehnte sich auf einmal in den Sonnenschein zurück, vor dem er geflüchtet war.
Schaudernd blieb er stehen.
Wie als Reaktion auf sein Zaudern flammte in der hintersten Zelle ein Licht auf.
»Wer da?«, sagte er. »Chi è là?«
Das Scharren eines Absatzes, dann sprach ihn
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