Der Judas-Schrein
Frauen waren für ihn tabu gewesen. Wie er jetzt bemerkte, hatte er mit diesem Schuppen nicht viel versäumt.
Entlang mehrerer Holzsäulen und Balustraden, an denen Plakate von Livebands und Showevents hingen, gelangten sie zur Tanzfläche. Der enge, kreisrunde Platz wurde von Tischen und Stühlen umrahmt, dahinter befand sich das Podest für die Band.
Eine Elektroorgel stand darauf, Mikrofonständer, Boxen und lose Kabel lagen herum.
Basedov hatte auf Stative montierte Scheinwerfer um die Tanzfläche gestellt, um den letzten Winkel des Tatorts ausleuchten. Er selbst war nicht zu sehen. Hinter einem Paravent aus Alufolie flammten Blitzlichter auf. Offensichtlich war er schon bei der Leiche angelangt.
Vor dem Paravent kroch Rolf Philipp auf allen Vieren; er trug Plastiküberzieher an Händen und Schuhen. Mit seiner Statur wirkte er wie ein Bär, der mit seinen Tatzen in einem Dekontaminierungsanzug steckte. Von Beginn an hatte jeder gewusst, dass er der geborene Spurensicherer war. Nach der Eignung am Gendarmerieposten Mödling waren sie zur Erprobung nach Erdberg gekommen, in den dritten Wiener Gemeindebezirk, und damit hatte festgestanden: Philipp ging zur Spurensicherung, Basedov wurde Kripofotograf und er selbst wechselte zum Morddezernat. Manchmal arbeiteten sie gemeinsam an einem Fall … heute war so ein Tag.
Philipp drehte ein dunkel schimmerndes Objekt zwischen den Fingern.
»Fragment des dritten oder vierten Lendenwirbels«, murmelte er in das Diktafon, das er sich dicht vor den Mund hielt. »Vier Zentimeter, elf Gramm. Entfernung zur Leiche …« Er las die Ziffern auf einem Maßband ab, das unter dem Paravent verschwand. »Drei Meter vierzig. Nummer siebzehn.«
Er packte den Teil in eine Folie, nummerierte sie mit einem Stift und markierte den Fundort mit einer Steckfahne. Danach legte er die Folie zu einem Berg von Tüten, der sich hinter ihm angesammelt hatte. Zuletzt fotografierte er den Platz.
»Der intensive Eisengeruch rührt von der hohen Blutmenge und den Knochenbrüchen der Wirbelsäule«, murmelte er in das Diktafon. »Auffällig ist jedoch der starke Schwefelgeruch. Möglicherweise ist die Wunde des Opfers mit Fluimucil versetzt.«
Körner und seine Kollegin beobachteten ihn fasziniert bei der Arbeit. Er hatte ihr Eintreten nicht bemerkt. Da knirschte Körner mit dem Schuh, Philipp schaute kurz hoch und beendete die Aufzeichnung. »Die Kavallerie ist da«, sagte er ironisch.
Philipp richtete sich vollends auf. Er war annähernd so groß wie Körner, nur sah er stämmiger aus und hatte gut den doppelten Brustumfang, ohne dabei dick zu wirken. Er hatte buschige Augenbrauen, einen dichten Kinn- und Oberlippenbart und eine Halbglatze, wodurch die hohe Denkerstirn voll zur Geltung kam. Dennoch trug er das nach hinten gekämmte Haar schulterlang und wirkte dadurch wie ein Künstler, der die Öffentlichkeit mit seinem unangepassten Auftreten schockieren will.
Als er Körner erkannte, hellte sich sein Blick auf. »He, du bist da? Dir hat Koren den Fall übertragen? Unglaublich! Ich hätte drauf wetten können, dass dich der alte Drachen suspendiert.«
Körner ging nicht darauf ein. Er war es leid, über den gestrigen Abend zu sprechen, dazu würde er noch früh genug die Gelegenheit haben. Körner deutete auf die Tanzfläche. »Fehlt etwas?«
»Kann ich zaubern?« Philipp breitete die Arme aus. »Ich bin gerade mal eine Stunde hier. Ich muss erst alles einsammeln und ins Labor bringen. Zieh dir Handschuhe an und hilf mir!«
»Danke! Wenn der Killer ein Stück von der Leiche als Andenken mitgenommen hat, möchte ich das wissen.«
»Du bist der Erste, der es erfährt.«
»Ist dir schon aufgefallen, dass das Türschloss fehlt?«, fragte Körner.
Philipp schüttelte den Kopf, als habe er es mit einem Dilettanten zu tun. »Schlaumeier! Ich habe das Zylinderschloss ausgebaut und werde es der Kriminaltechnik schicken. Ich glaube, jemand hat daran rumgefummelt.«
»Sonst noch etwas gefunden?«
»Ja! Das Ausweisetui des Mörders«, fauchte Philipp. »He, was glaubst du, was ich hier mache? Es gibt nichts Schrecklicheres als eine Spurensicherung in einer Diskothek: Hunderte frische Fingerabdrücke am Geländer und an den Gläsern, Stofffasern an den Stühlen, Hunderte Fußabdrücke. Finde da mal raus, welche zur Tat gehören und welche nicht.«
»Ja, ja, ich habe verstanden: Wir lassen dich in Ruhe arbeiten.« Körner hob beschwichtigend die Hände. »Das ist übrigens Dr. Sonja Berger. Sie
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