Der Judas-Schrein
Dorn ruhig und hörte sich alles an. Sein Gesicht wurde immer länger, fast traurig musterte er den Schreiner. Schließlich nahm er ihn an der Schulter und führte ihn aus der Sakristei hinaus. Ich ahnte, was passieren würde. Rasch lief ich zum nächsten Fenster und sah, wie sie durch die Kirche schritten. Der Pater führte Müllenspier zum Beichtstuhl. Mein Gesicht klebte an der Scheibe, bis das Glas beschlug. Für einen Augenblick streifte mich Pater Dorns Blick. Er hatte mich bemerkt und würde mich bestimmt zum Schweigen bringen. Mein Herz raste, als er mit einer raschen Bewegung die Tür öffnete und Kaspar Müllenspier in den Beichtstuhl stieß. Entsetzliche Vorstellungen spukten mir durch den Kopf. Eilig wandte ich mich ab und harkte weiter den Boden, als wenn nichts geschehen wäre. Beim Abendbrot sagte der Pater kein Wort zu mir, doch merkte ich, dass er jede meiner Bewegungen beobachtete.
28. April: Wie üblich arbeitete ich abends in Pater Dorns Pfarrwohnung, staubte die Bücher ab, wischte die Regale und wusch das Geschirr. Vor dem Fenster stand Adalbert Schmals Pferdekarren. Ich hatte den Landwirt gar nicht kommen hören. Erst als laute Stimmen aus dem unteren Stock des Pfarrhauses drangen, wurde mir klar, dass er den Pater besuchte. Doch war es keine normale Visite. Die Männer stritten. Vorsichtig öffnete ich das Fenster und lauschte. Ich hörte Schmals aufgebrachte Stimme. Er ist ein riesiger, behäbiger Mann mit Händen so groß wie Wagenräder. Sein Gebrüll war dementsprechend kräftig, die Scheiben vibrierten, sobald er die Stimme erhob. Und diesmal war er außer sich. Ich brauchte mich nicht sonderlich anzustrengen, um zu hören, dass es wie immer um die gleichen Anschuldigungen ging: Was passierte mit den Ortsbewohnern? Was geschah mit den Frauen und Kindern nach der Messe? Weshalb veränderten sie sich? Schlagartig verstummte das Geschrei. Ein wuchtiger Körper fiel zu Boden und riss einen Gegenstand mit sich. Pater Dorn! Was war ihm zugestoßen? Ich hielt den Atem an. Das Splittern der Scherben verklang, es wurde ruhig. Im nächsten Moment hörte ich die Tür des Pfarrhauses. Sie wurde wuchtig aufgestoßen und Pater Dorn trat heraus. Heilige Mutter Gottes! Er zerrte den Landwirt unter den Achseln aus dem Haus. Rasch stolperte ich einen Schritt vom Fenster zurück. Der Pater durfte mich nicht sehen! Er würde mich ebenso bewusstlos schlagen oder Schlimmeres mit mir anstellen. Ich frage mich, weshalb er das nicht schon längst getan hat. Hofft er auf meine Ergebenheit? Während ich über meine Rolle in diesem grausamen Spiel grübelte, verbarg ich mich hinter dem Vorhang und beobachtete den Pater. Schritt für Schritt schleifte er den gewaltigen Körper Adalbert Schmals hinter sich her und verschwand mit ihm in der Kirche. Nein! Nicht schon wieder der Beichtstuhl, durchfuhr es mich. Ich begann zu beten, trat von einem Bein aufs andere. Warum tat er das nur? Vielleicht wäre es mir gelungen, Adalbert Schmal zu retten. Hätte ich rechtzeitig Hilfe bringen können, wenn ich augenblicklich losgelaufen, in die Kirche gestürzt wäre und dem Pater den Weg versperrt hätte? Wäre er zur Vernunft gekommen? Ich werde es nie herausfinden. Meine Glieder waren tonnenschwer, ich hatte nicht einmal die Kraft, die Pfarrwohnung zu verlassen, geschweige denn, durch den Hof zu gehen und die Kirche zu betreten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich reglos neben dem Fenster gestanden habe, gewiss eine halbe Stunde. Da flog die Kirchentür auf. Das Geräusch riss mich aus den Gedanken. Mir stockte der Atem, gebannt starrte ich durch das Fenster. Adalbert Schmal taumelte über den Platz auf seinen Pferdekarren zu. Mit langsamen, ungelenken Bewegungen kletterte er auf den Bock und griff mehrmals nach den Zügeln. Immer wieder glitten sie ihm aus der Hand. Die Pferde scharrten unruhig mit den Hufen in der Erde. Rochen sie die Schwefelausdünstung, die der Landwirt aus dem Beichtstuhl mitgebracht hatte? Ich hätte ihn retten können, doch jetzt war es zu spät. Er war ein anderer geworden, wie zwei Wochen zuvor bereits Kaspar Müllenspier. Wann wird das alles enden? Und wann wird es mich erwischen?
13. Mai: Ich bete täglich mehrere Stunden für Pater Dorn, damit er endlich zur Besinnung kommt, doch was tut er?
Seit Tagen und Nächten schnitzt und kerbt er hinter einer Plane, die den Beichtstuhl verhängt. Sein Holzwerken ist ohne Pause zu hören. Heute, am Freitag, nach einer Woche Arbeit, ist er fertig
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