Der Judas-Schrein
grinste schwach. Von seinem Team verfügte niemand über ein funktionierendes Handy! Im Moment war es auch besser, wenn keiner von ihnen zu erreichen war. Rolf Philipp besaß als Kripoermittler die Vollmacht, ihm bei einer Suspendierung Waffe und Dienstmarke abzunehmen. Jedenfalls würde er den Mitgliedern seines Teams vorerst nichts von dem Gespräch mit Jutta Koren erzählen, sie ungestört arbeiten lassen und abwarten, was Sabriskis Obduktion und Philipps Spurensuche ergaben.
In der Zwischenzeit saß Körner neben dem Eingang zur Halle auf einer Bank, lauschte dem Gemurmel seiner Kollegen. Er schlug den Mantelkragen hoch, während er über den Hang auf das Dorf hinunterschaute. Helle Strahlen blinzelten durch die Wolkendecke, die an mehreren Stellen gleichzeitig aufriss. Es war höchste Zeit, dass die Sonne endlich wieder hinter dem endlosen Dunstschleier hervorkam. Die Luft war noch immer feucht, geschwängert vom Nieselregen, und ein prächtiger Regenbogen spannte sich über das gesamte Tal.
Als die Sonne Körners Gesicht wärmte, löste sich seine innere Anspannung. Er zog das Tagebuch des Messdieners aus der Manteltasche. Eigentlich hatte er es eingesteckt, um es Sonja Berger zum Lesen zu geben, doch die verrückte Geschichte um Pater Dorn faszinierte ihn so sehr, dass er selbst die Eintragungen zuerst lesen wollte. Immerhin handelte das Buch von der Geschichte Greins, jenes Orts, in dem er aufgewachsen war, und letztendlich würden die vergilbten Seiten vielleicht das Geheimnis um jenen alten Pfarrer lüften, über den sich so viele Erzählungen rankten, die sich die Jungendlichen in der Nähe des Friedhofs hinter vorgehaltener Hand erzählt hatten. Anscheinend verbarg sich doch mehr hinter dem Mord an Pater Dorn, als er zunächst geglaubt hatte … sofern das Tagebuch keine Fälschung war.
Den Schluss der Aufzeichnungen kannte er bereits, doch wusste er nicht den Grund, weshalb die Dorfbewohner den Pater zu Tode geprügelt, ihn nackt in der Kirchenkuppel aufgehängt und anschließend das Gotteshaus in Brand gesteckt hatten. Um sich den Anfang des verworrenen Textes zu ersparen, schlug Körner das Buch in der Mitte auf und begann zu lesen.
19. Kapitel
10. April: Bis zu Jahresbeginn haben die in Haidenhof lebenden Katholiken jeden Sonntag den einstündigen, beschwerlichen Kirchweg durch Wind und Wetter auf sich genommen, um während des Gottesdienstes die Sakramente zu empfangen. Ich bewunderte diese Menschen. Mochte die Not auch noch so groß sein, niemals hätten die Gläubigen von Haidenhof und Grain auf das Gotteshaus in ihrer Mitte und seinen Besuch verzichtet. Ständig war die Kirche zum Bersten voll. Umso mehr schmerzt es, dass die Gemeinde einen Mann wie Pater Dorn zum Pfarrer hat, der noch dazu aus einer gläubigen Pfarrfamilie stammt.
Nie hätten wir bei den Restaurationsarbeiten das Gewölbe öffnen, in die Gruft hinabsteigen, Hutzingers Buch finden und darin lesen dürfen. Nie hätten wir die Maschine bauen dürfen. Alles wäre beim Alten geblieben, und Pater Dorn wäre auch heute noch ein rechtschaffener Pfarrer, der die Heilige Messe an Sonn- und Festtagen zelebriert, die Marienfeste feiert, die Andachten, Christenlehre sowie die Weihen von Salz und Wasser abhält. Doch seit die Kreatur geboren wurde und in der Obhut Pater Dorns wächst, genügt es nicht mehr, dass er das Gezücht im Beichtstuhl verbirgt. Seit Jahresbeginn bleiben die gottesfürchtigen Leute aus, auch diesen Sonntag wieder. Stattdessen kommen Männer und Frauen, um die schwarze Hostie zu empfangen. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Rasch verbreitet sich das Gerede, etwas Böses habe sich in der Kirche eingenistet.
14. April: Es wird Frühling. Seit Beginn dieser Woche harke ich die Erde im Pfarrhof, so auch diesen Donnerstag. Bereits in den Morgenstunden suchte der Kunstschreiner Kaspar Müllenspier den Pater auf. Ich machte eine Pause, rieb mir die schwieligen Hände am Hosenboden und sah durchs Fenster die beiden in der Sakristei streiten. Der Schreiner war aufgebracht, seine Arme fuhren durch die Luft. Dumpf hörte ich sein Geschrei durch das geschlossene Fenster. Gewiss war der Schreiner von den Dorfbewohnern geschickt worden. Er ist ein enger Vertrauter des Paters, weshalb es auf der Hand lag, dass er versuchen sollte, dem Pater ins Gewissen zu reden. Wie viel haben die Bewohner schon begriffen? Ahnen sie, was sich in der Gruft und im Beichtstuhl verbirgt?
Während Müllenspier tobte, blieb Pater
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