Der Judas-Schrein
geworden. Kaum hatte ich meine Mittagsmahlzeit beendet, zwang er mich in die Kirche. Mit rotgeränderten Augen und blutig rauen Fingern präsentierte er mir sein Werk. Ich musste es mir ansehen, ob ich wollte oder nicht. Er wischte sich das Blut von den Händen, zog die Plane von dem Gerüst, sodass sich mir das entsetzliche Ergebnis offenbarte. Er hatte die Holzdecke des Beichtstuhls zu einem kleinen rundbogigen Reliquienschrein umfunktioniert.
»Die Kunstschnitzereien stammen von mir«, sagte er stolz. »Schau sie dir genau an.« Er zerrte mich näher heran. Doch waren keine Heiligen, Engel, Märtyrer oder Prozessionen mit Kruzifix-, Laternen- und Betstuhlträgern zu sehen, sondern ein grässliches Gezücht mit Hörnern, Dornen, Zähnen und Krallen. Die figürliche Ausstattung war grob, die Details verschwammen ineinander. Das Abbild erinnerte mich auf schreckliche Weise an meine Erlebnisse vor zwei Monaten im Beichtstuhl, zudem führte es mir endgültig den kranken Geist des Paters vor Augen.
6. Juni: Heute ist mir klar geworden, dass mich Pater Dorn deshalb verschont, weil er mich braucht, um die neugierigen Dorfbewohner von der Kirche fern zu halten. Solange der Messdiener noch normal ist, kann von der Kirche keine Gefahr ausgehen, sollen sie glauben. Aber es wird zunehmend schwieriger, den Menschen diese Lüge vorzugaukeln. Immer mehr Leute werden misstrauisch, zu viel ist in den letzten Monaten vorgefallen. Pater Dorn hat zu viel riskiert. Es lässt sich nicht mehr vertuschen, längst hätte er dem Grauen im Ort ein Ende setzen müssen, doch er treibt sein Spiel mit den Menschen immer weiter. Dabei hat er nicht nur sie betrogen, sondern auch Verrat an Jesus, Gott und der Kirche begangen. Er hat einen unheiligen Pakt mit Furcht einflößenden Mächten geschlossen. In der Zwischenzeit ahnen die Bewohner, dass die Bedrohung vom Beichtstuhl ausgeht. Im Volksmund wird er bereits der Judas-Schrein genannt - und wie Recht sie doch haben! Pater Dorn, der Verräter, hat einen Schrein errichtet, worin er dem Bösen Unterschlupf gewährt. Ich weiß es am besten, denn ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Doch seit meinem Erlebnis im Beichtstuhl wage ich mich nicht mehr in dessen Nähe. Die Gefahr, die davon ausgeht, ist zu groß geworden.
Der einzige Platz innerhalb der Kirche, wo ich mich noch wohl fühle, ist die Kapelle. Sie ist eng, weist einen rechteckigen Grundriss auf, und auf ihrem Satteldach befindet sich ein winziger Reiter mit spitzer Haube. Innen ist sie ebenso zierlich eingerichtet. Unter dem Chorbogenkruzifix stehen zwei alte Kirchenbänke, davor ein weiß angemalter Christus. Aus seinen Wundmalen sprießen fünf kleine Engel, die sein Blut mit Kelchen aufnehmen. Doch nicht nur die Gegenwart Jesu führt mich oft hierher - neben seiner Statue befindet sich der alte Marienaltar. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskind und zwei Engeln in Demut- und Gebetshaltung, geschnitzt von dem Künstler Heinz Mück aus Wesel, waren der eigentliche Grund gewesen, weshalb ich vor drei Jahren das Amt des Messdieners gewählt hatte. So konnte ich ständig in der Nähe der Mutter Gottes verweilen und mich ungesehen in ihrer Güte baden, ohne als Spinner abgetan zu werden. Mittlerweile ist die Kapelle zu meiner Zufluchtstätte geworden, an die ich mich an meinen freien Montagen zurückziehen kann, um zu beten. Heute zermarterte ich mir stundenlang das Gehirn, woher ich Hilfe holen könnte. Der einzige Ort, der mir einfiel, ist die Pfarrstelle in St. Gyden im Dekanat Kempen. An meinem nächsten freien Tag könnte ich Bürgermeister Ebus von Walbeck dorthin begleiten. Doch was sollte ich dem dort ansässigen Pater berichten? Etwa alles? Würde er mir glauben? Wäre das zudem nicht Verrat an meinem Pater? Ich fürchte mich davor, schließlich bin auch ich kein Unschuldiger. Doch mehr fürchte ich Pater Dorn selbst. Wie wird er reagieren, wenn er hinter meinen Treuebruch kommt? Aber noch hege ich die Hoffnung, sein Zustand könnte sich bessern. Vielleicht bringen ihn meine Gebete zur Vernunft.
12. Juni: Es ist schrecklicher geworden, doch der Reihe nach. Diesmal erschienen bereits zwölf Gläubige zum sonntäglichen Gottesdienst, um die schwarze Hostie zu empfangen. Nach der Messe trug ich das Evangelium, die Messbücher und Kerzenständer in die Sakristei. Ich ordnete alles an, wie es mir Pater Dorn beigebracht hatte. Durch das Fenster sah ich die Leute den Kirchberg hinuntergehen. Wolfgang Bücheler, der Ofensetzer, war
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