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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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nicht unter ihnen. Ich dachte, er würde an dem lauen, sonnigen Abend noch auf der Bank vor dem kleinen Friedhof sitzen. Seit dem Tod seiner Frau war er dort oft zu finden. Meist kauerte er stundenlang da, ohne gestört werden zu wollen. Früher bat ihn der Pater oft zu sich in die Wohnung und aß mit ihm einen Teller heiße Suppe, doch seit die Menschen im Ort spüren, dass mit dem Pater etwas nicht stimmt, verschloss sich auch Bücheler vor ihm. Als ich aus der Sakristei zurückkam, um Kelch, Tuch, Ziborium und den Weihrauchkessel im Schrein aufzubewahren, sah ich die Tür zum Beichtstuhl offen stehen. Ein menschlicher Körper lag davor, auf dem Rücken, das Gesicht zur Kuppel gerichtet. Der Arm des Mannes war grotesk nach hinten verbogen, als wolle er sich zwischen die Schulterblätter greifen. Mehr konnte ich nicht erkennen, da seine Augen im Schatten lagen. Ich glaubte, er sei tot. Als ich zu ihm stürzte, schlug die Beichtstuhltür mit einem Knall zu. Mein Herz raste. Ich stand vor dem Mann: Es war der Ofensetzer Wolfgang Bücheler! Plötzlich bewegte er die Lippen. »Max! Hilf mir, Junge«, flüsterte er. Seine Finger streckten sich nach mir aus.
    Mein Körper war steif, ich konnte nur dastehen und ihn anstarren. Endlich griff ich nach seiner Hand. Mit meiner gesamten Kraft versuchte ich ihn zu packen, doch seine blutverschmierten Finger entglitten meinem Griff. Schließlich gelang es mir, ihn hochzuziehen. Taumelnd stand er vor mir, sein Hemd war ihm aus der Hose gerutscht. Ich roch den penetranten Schwefelgestank. Von Bücheler stammte er nicht, da war ich mir sicher. Vorsichtig schielte ich zum Beichtstuhl. Die Tür war geschlossen, und um keinen Preis der Welt hätte ich sie noch einmal geöffnet. Das Erlebnis, welches ich vor mittlerweile drei Monaten hatte, steckte mir zu tief in den Knochen. Herr Bücheler bedankte sich mit knarrender Stimme bei mir und wankte davon. Entsetzt sah ich seinen zerrissenen Hemdrücken. Auf dem Boden, wo er gelegen hatte, glänzte eine schmierige Blutlache.
    Heilige Maria, Mutter Gottes, wohin soll das führen?
     
    19. Juni: Heute Abend war es soweit. Ich erfuhr es während der Vorbereitung zur Andacht von der Tochter des Bürgermeisters. Johannes Ebus von Walbeck konnte zwei Männer für seine Pläne gewinnen, den Schlosser Wilhelm Grüterich und den Dorfschmied Anton Biesenbach. Mehr brauchte er nicht! Gemeinsam scharten sie eine Meute von achtzig Männern um sich. Das ist praktisch der gesamte Ort.
    Stunden später rückten die Bewohner mit Äxten, Beilen und Brecheisen über den Kirchberg an. Sie platzten während der Messe in die Halle.
    »Räumt die Kirche aus!«, tobte der Bürgermeister, während die Männer in das heilige Gebäude stürzten. Ich verbarg mich hinter der Hauptsäule, von wo ich das Geschehen beobachtete. Die Zimmerleute Ginderich und Dörpinghaus rückten mit Pferdegespannen an und zerrten mit ihren Helfern Dutzende Laufmeter Holzbohlen in die Kirche. Der Altar wurde verwüstet, die Orgel beschädigt, die Kanzel zerschmettert. Die wenigen Gläubigen flohen während der Messe in die Sakristei. Ich sah sie durch das Fenster klettern und über den Berg die Flucht ergreifen.
    Ginderichs Männer demontierten die Sitzbänke und zerlegten sie zu Brettern. Es ging so rasend schnell. Andere Männer schnitten die Seile der Glocken durch und traten die Aufhängung von den Balken, bis das gesamte Läutwerk mit einem metallenen Donnern durch den Turm zu Boden stürzte.
    Weinend und klagend zelebrierte Pater Dorn die Messe zu Ende und brachte zum letzten Mal in der Pfarrkirche Grain das Heilige Opfer. Während er bei der Wandlung die Hostie erhob, hielten die Männer die Hand vor das Gesicht.
    »Wollt ihr das Sakrament nicht sehen?«, jammerte Pater Dorn. Er hob die Arme weit von sich und streckte ihnen die schwarze, viereckige Hostie entgegen. Währenddessen trieben die Männer das Gezücht mit Fackeln tief in den Schacht des Beichtstuhls. Ich hörte ihre Schreie und ihr Johlen von unten heraufdringen. Sie jagten das verletzte Getier immer tiefer in die Erde, bis es endgültig in eine Felsspalte stürzte. Danach räucherten die Männer das Gewölbe und den Türkenschacht aus, schütteten das Loch zu und vernagelten den Boden. Immer mehr Bänke wurden herangeschleppt. Die Äxte splitterten das Holz. Ich fürchtete, dass kein Stein auf dem anderen bleiben würde, doch die Männer verschonten den Rest der Kirche, den Pater und mich. Sie brachten lediglich eine

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