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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Überresten etwas finden?
    Er fiel auf die Knie, grub die Finger bis zu den Handgelenken in die Erde und wühlte alles hinter sich. Je mehr Matsch er aus dem Grab schaffte, desto schneller füllte sich die Grube mit Wasser. Bald hatte sich die Brühe drei Zentimeter tief gesammelt. Er fror, seine Hände zitterten, und erst jetzt spürte er den Schweiß, mit dem ihm sein Pullover am Körper klebte. Er fischte immer größere Holzstücke aus dem Morast, bis er plötzlich einen faulenden Knochen in der Hand hielt. Ein Schauer lief ihm von der Kopfhaut bis zu den Zehen. War es dies, wonach er gesucht hatte?
    Er kletterte aus dem Grab, um einen Eimer zu holen. Nach einer weiteren halben Stunde hatte er das Wasser abgeschöpft und den Lehm so weit entfernt, dass die Form eines Skeletts zum Vorschein kam, an dem sogar noch Fleischreste zu erkennen waren - nach all den Jahren! Der Lehm hatte wie eine Konservierungsmasse gewirkt.
    Körner wollte nicht begreifen, dass er die Überreste seines Vaters oder seiner Mutter vor sich sah. Es waren bloß Knochen und Gewebeteile, die nichts mehr mit den lebendigen Menschen gemeinsam hatten. In seiner Erinnerung sahen seine Eltern so aus, wie auf den Fotos in jenem Schuhkarton, den er in seiner Wiener Wohnung aufbewahrt hatte. Das Betrachten der Bilder schien so lange zurückzuliegen, dabei waren seither erst drei Tage vergangen! Aus dem Lehm, der das Skelett wie eine Gussform umgab, zog er einen blanken Oberarmknochen. Körner drehte sich der Magen um. An der Unterseite des Knochens hing ein vollständiger Muskel. Doch das Fleisch war weder angekohlt noch verbrannt, sondern so grau wie der Himmel. Von seiner Mutter konnte das nicht stammen. Er hatte sie mit eigenen Augen verbrennen sehen. Es konnten nur die Überreste seines Vaters sein.
    Körner wühlte sich weiter aufwärts durch den Lehm, bis er auf den Schädel stieß. Mit dem Wasser, welches in der Grube stand, wusch er den aus dem Schlamm ragenden Knochen ab. Die seitliche Rundung des Kopfes kam zum Vorschein. Wie hypnotisiert starrte Körner auf den Riss im Schädelknochen. Diese gewaltsam eingedrückte Stelle stammte nicht von einem Sturz. Sie konnte nur bedeuten, dass jemand seinem Vater den Kopf zertrümmert hatte. Demnach war Körners Vater nicht verbrannt wie seine Mutter. Weißmann und seine wahnsinnigen Schergen hatten nachgeholfen, um die Belange des Ortes auf ihre Art und Weise zu regeln.
    Ein weiterer Mord, der vertuscht worden war. Wie lange reichte diese Tradition schon zurück? Wie im Mittelalter waren die Menschen in Grein und Heidenhof seit dem Mord an Pater Dorn 1864 Opfer der Lynchjustiz geworden. Bisher war das niemandem aufgefallen. War Körner tatsächlich der Erste, der das Geheimnis der Dorfbewohner aufzudecken begann?
    Er nahm seine zitternden und blutigen Hände vom Schädel. Eigentlich war er hier, um nach etwas anderem zu suchen. Er drehte sich in der Grube herum und begann im Beckenbereich des Skeletts zu graben. Vorsichtig tastete er mit den Fingern durch den Schlamm. Zunächst stieß er auf einen Rückenwirbel, danach auf einen zweiten und dritten. Die Bandscheiben waren längst zerfallen, dennoch hingen die Wirbel lose aneinander. Er zog fünf davon wie eine Girlande aus dem schlammigen Wasser. An einem Rückenwirbel waren deutlich die Saugstellen, ein Loch in der Mitte und die abgeschabten Ränder zu sehen. Diese Verletzung sah nicht so aus wie jene an den Lendenwirbeln der Krajnikgeschwister, die Sabriski ihm bei der Autopsie gezeigt hatte - sie sah deutlich schlimmer aus.
    Der Wirbel war wie von einer Säure befallen, beinahe vollkommen porös und aufgelöst, als sei diese Schändung über mehrere Jahre hindurch vollzogen worden. Für einen Augenblick dachte Körner an das nicht-menschliche Gewebe in Sabine Krajniks Rückenwunde, das sich mit erhöhter Zellteilung von selbst regenerierte. Wild wucherndes Fleisch, das sich ständig weiterverformte. Ihm wurde wieder übel, doch er würgte nichts weiter als bitteren Gallensaft hervor. Er ließ den Skelettteil ins Wasser fallen, krümmte sich und atmete tief aus. Langsam beruhigte sich sein
    Körper. Endete es nie? Wie konnte er diesem Albtraum nur entfliehen?
    Mit angezogenen Beinen kauerte er in dem Erdloch, an die Wand gelehnt, zitternd und fröstelnd. Das Wasser stieg immer höher, bis sein Hosenboden durchnässt war, was er gar nicht bemerkte. Er schreckte erst hoch, als der Eimer vor seinen Augen herunterfiel, sodass ihm der Schlamm ins Gesicht

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