Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
Als der Schweiß auf seiner Stirn trocknete, kroch langsam die Kälte in seine Knochen. Mit klammen Fingern zog er die Stabtaschenlampe, die er in Marias Wohnung gefunden hatte, aus der Hosentasche. Den schwachen Strahl richtete er in den Tunnel vor sich. Nach etwas mehr als drei Metern wurde das Licht von Dunkelheit verschluckt. In dem bloß eineinhalb Meter breiten Gang standen Eimer, Spaten, Holzbretter und Kisten herum. An den Deckenbalken hingen rostige Lampen mit eingeschlagenem Glas, in denen sich längst kein Petroleum mehr befand.
    Wohin sollte er sich wenden? Zurück zu seinem Auto, in dem das Tagebuch des Messdieners lag? Sollte er zumindest einen Wagenheber als Waffe an sich zu bringen und dabei riskieren, Weißmanns Männern in die Arme zu laufen? Er war dreimal nur knapp entkommen, für die nächste Flucht reichten seine Kräfte nicht mehr.
    Schleppend setzte sich Körner in Bewegung, wandte sich vom Ausgang ab und stieg tiefer in den Tunnel. Der Gang führte ohne Abzweigungen direkt in den Berg hinein. Körner zwängte sich an mehreren Grubenhunten vorbei, die nicht auf Gleisen standen, sondern wie ausrangierte Museumsstücke an der Wand lehnten. An diesem Ort war die Zeit stehen geblieben, als habe die Stilllegung des Bergwerks alle Uhren angehalten. Ebenso gehörte seine Exfrau nun der Vergangenheit an. Welch merkwürdige Assoziationen durch seinen Kopf spukten! Die Situation kam ihm so surreal vor. Er hatte Maria tatsächlich mit dem Gaskocher erschlagen, seine Tochter zur Halbwaisen gemacht.
    Mit einer gehörigen Portion Pech hatte er auf dem Friedhof vielleicht sogar einen zweiten Menschen getötet, als er Hermann Goisser die Füße weggezogen hatte, sodass dieser mit dem Rücken auf die Grabeinfassung schlug. Wer würde schon an Notwehr glauben? Zu viele Zeugen würden sich finden, die seine Version bestritten und ihn einen Mörder nannten. Bestimmt fänden sich auch genügend Dorfbewohner, die bezeugen konnten, dass er seine Exfrau vorsätzlich erschlagen hatte. Wieder und immer wieder tauchte jene Szene vor ihm auf, als Maria mit dem Brotmesser auf ihn eingestochen und er nach dem Gaskocher gegriffen hatte. Warum hatte sie ihm nicht geholfen? Alles wäre anders gekommen. Die Erinnerung war so lebendig, er roch sogar das Kerzenwachs in der Küche und den feucht gewordenen Kunstdünger, den die Bauern eilig von den Paletten ins Trockene geschafft hatten. Körners Fantasien überschlugen sich. Während er durch den Tunnel voranstolperte, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte den gesamten Tag über nichts gegessen, gedurstet, gefroren, und nun kündigten sich auch noch hämmernde Kopfschmerzen an. Dennoch wollte ihm sein Unterbewusstsein etwas mitteilen, das … Plötzlich hielt er inmitten des Tunnels regungslos inne, die Taschenlampe auf eine Holzkiste gerichtet, den schwarzen Totenkopf anstarrend, der wie eine Warnung in das Holz gebrannt war. Was hatte das alles zu bedeuten? Irgendwo verbarg sich ein Gedanke, der für ihn wichtig war. Der Gestank vor Marias Wohnhaus! Beim Kontakt mit Wasser war durch die Chemikalien des Kunstdüngers eine penetrant riechende Ammoniakwolke entstanden, die ihn an den Schwefelgestank des Tatorts von Sabine Krajniks Ermordung erinnert hatte. Der Schwefelgestank! Chemie! - Eine chemische Kettenreaktion!
    Aus seiner Erinnerung kramte er einen Satz hervor, den er über die 25-jährige Gedenkfeier des Grubenunglücks im Greiner
    Dorfanzeiger gelesen hatte: Die aus Wellblech errichteten Werkstätten- und Kanzleigebäude trotzen wie ein Mahnmal der Witterung. Er versuchte sich zu konzentrieren. Selbst das Dynamit für die nie vollzogene dritte Sprengung liegt noch heute im Depot neben dem Segen-Gottes-Schacht verborgen.
    Über sechzig Jahre altes Dynamit! Ob es seit dem Grubenunglück in diesem Tunnel gelagert worden war? Er starrte auf die Kiste zu seinen Füßen. Chemische Kettenreaktion! Plötzlich sah er einen wahnwitzigen Plan, der immer konkreter wurde, je länger er darüber nachdachte. Seine Tochter befand sich in den Händen verrückter Mörder. Sie hatten der Reihe nach die Mitglieder seines Ermittlerteams getötet, ihn selbst wie ein waidwundes Tier in den Berg getrieben. Morgen würde er zurückschlagen und ihnen all das heimzahlen, was sie über die letzten Jahrzehnte den Menschen in diesem Ort angetan hatten!
    Am Haken eines Wandbords fand Körner einen Grubenhelm, darunter einen brüchigen Stoffmantel. Er schlüpfte in das nach Kohle und Moder

Weitere Kostenlose Bücher