Der Judas-Schrein
kreisenden Bewegungen mit dem Fuß gelang es ihm, das Bein zu befreien.
Er blickte kurz zum Spiegel, als er das Knarren von Seilen hörte. Der Flaschenzug, an dessen Ende Lederriemen befestigt waren, bog Sabriskis Rücken, sodass sich die Zwischenräume ihrer Wirbel erweiterten. Körner war mit all seinen Theorien und Vermutungen völlig auf dem Holzweg gewesen. Erst jetzt sah er die grausame Wahrheit: Auch im Wohnzimmer gab es eine Wandöffnung! Die Männer beschworen irgendein Ding daraus hervor. Sie gerieten in hektische Bewegung, sodass ihre Schatten durch den Raum zuckten.
Hastig schob Körner sein Gesäß auf die andere Seite der Sitzfläche, um das linke Fußgelenk ebenso zu befreien wie das rechte. Einen Atemzug später stand er inmitten der Küche, die Hände noch immer auf den Rücken gefesselt.
Das Gemurmel der Männer wurde lauter. Körner wusste nicht, was es war, doch etwas kroch aus der Wand. Es schlängelte sich wie ein Wurm über Sabriskis Körper und dann verschwand es plötzlich. Im gleichen Augenblick bäumte sich Sabriski auf. Ihre Augen weiteten sich, traten regelrecht hervor, ihr Körper spannte sich wie ein Bogen.
Körner war wie gebannt. Der Anblick glich der Zeichnung, mit der die Reporterin den Augenblick von Sabine Krajniks Tod festgehalten hatte. Sabriski zappelte und zerrte an den Fesseln. Zwei Männer mussten sie links und rechts niederhalten.
Körner wusste, wenn er jetzt mit gefesselten Händen ins Wohnzimmer stürzte, würden sie ihn nur zu leicht überwältigen. Zwei Möglichkeiten standen ihm zur Auswahl: den Nylonfaden an der Kante des Mauerlochs langwierig aufzuscheuern und sich dabei die Handgelenke blutig zu reiben, oder die Fesseln kurz und schmerzvoll in der Flamme jenes Kerzenstummels fortzuschmelzen, der auf dem Geschirrspüler klebte. Er entschied sich für letzteres. Mit zusammengebissenen Zähnen hob er die Arme über die Flamme. Es roch nach verkohlten Haaren und verbrannter Haut. Knisternd versengten die Fasern des Pullovers. Der Schmerz erinnerte Körner an das brennende Elternhaus, die flammenden Haare seiner Mutter und seinen ausgestreckten
Arm, an dem das Feuer leckte. Körner presste die Augenlider zu und zerrte an den Fesseln. Durchhalten! Nur noch wenige Sekunden. Dann stöhnte er erleichtert auf!
Der Druck gab nach, seine Hände flogen auseinander. Der rechte Pulloverärmel brannte, doch er hatte keine Zeit, die Flammen zu ersticken. Zwei Männer stürzten in die Küche. Ohne zu überlegen schlug Körner dem Ersten die Faust in den Kehlkopf. Dem Zweiten trat er ins Knie und drosch ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Noch bevor sich der Erste wieder aufrappeln konnte, rammte ihm Körner das Bein in den Bauch. Diese fließende Bewegung hatte nicht länger als einen Atemzug beansprucht. Als Körners Bein vom letzten Fußtritt zurückschnellte, richtete er sich auf, den Körper angespannt, die Hände zu Fäusten geballt.
Einmal tief durchatmen, bevor er über die beiden Männer auf dem Boden hinweg ins Wohnzimmer stürzte … Doch da trat Heck in den Türrahmen, in der Faust ein großes Brotmesser mit blutbesudelter Klinge.
Hecks Knöchel der Messerhand traten weiß hervor. »An mir kommst du nicht vorbei«, knurrte er. »Verlass dich drauf!«
Körner spähte über Hecks Schulter in den Vorzimmerspiegel. Sabriski hing schlaff in dem Eisengestell. Ihr Kopf wippte wie unter fremdem Einfluss auf und ab. Weber stand neben ihr.
»Leg dich hin, Hände über den Kopf, Gesicht zu Boden!«, kommandierte Heck.
»Ich gebe dir eine letzte Möglichkeit, das hier zu beenden«, erwiderte Körner. »Gib mir das Messer, du bist dann aus der Sache draußen!«
»Auf den Boden, Alex! Ich meine es Ernst!«
Neben Körner würgte sich ein Mann die Galle aus dem Leib. Aus dem Augenwinkel erkannte er Friedls gekrümmte Gestalt. Dahinter rappelte sich Weißmann fluchend auf. Im gleichen Moment wusste Körner, dass er nur diese eine Chance erhalten würde, aus der Wohnung zu fliehen.
Während er herumwirbelte, griff er nach dem Tagebuch auf dem Küchentisch. Mit einem Fuß stieg er auf Weißmanns massigen Rücken, mit dem anderen auf die Arbeitsfläche der Küche. Als Heck zu brüllen begann, warf er sich bereits mit der Schulter gegen den Fensterrahmen. Durch Holzsplitter und Glasscherben segelte er ins Freie. Einige der Dosen und Milchpackungen auf dem Fensterbrett folgten ihm, als er ein Stockwerk tief fiel. Beim Aufprall presste er einen Arm an den Körper, rollte sich auf der
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