Der Judas-Schrein
stinkende Kleidungsstück und sackte neben der Holzkiste zu Boden. Im Moment wollte er nur schlafen. Sein Kopf sank an die Wand. Bevor ihm die Augen zufielen, folgte sein Blick noch einmal dem Lichtstrahl der Stablampe, der den Raum hinter der Holzkiste ausleuchtete. Tiefer im Tunnel befanden sich Spaten, Petroleumlampen, Ventilatoren und etwas, das wie ein vorsintflutlicher Generator aussah. Dahinter wucherten dicke Wurzeln über den Boden. Körner kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Das Wurzelwerk schimmerte schwach aus der Dunkelheit. Die knorrigen Äste waren übereinander gekrochen, hatten sich an der Wand bis zur Decke emporgerankt, wo sie ein wirres, verkrüppeltes Gewächs aus Knoten, Knollen und Wurzelstöcken bildeten.
Der Anblick war unerträglich, der sich plötzlich ausbreitende subtile Schwefelgestank Ekel erregend. Höllische Kopfschmerzen dröhnten hinter Körners Schläfe. Ihn würgte. Die Erinnerung an die züngelnden Schlangen im Mauerwerk von Marias Wohnung schoss ihm durch den Sinn. Er sah das Gebilde vor sich, welches aus der Wohnzimmerwand gekrochen und wie ein Parasit in Sabriskis Körper geschlüpft war. Bruchstücke aus dem Tagebuch des Messdieners schwirrten ihm durch den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich etwas eilig über den Boden nach hinten davonhuschen … War er mittlerweile ebenso verstört wie der junge Messner? Er wollte die Erinnerung verscheuchen, doch sie drängte sich beharrlich auf. In der Dämmerung machte ich eine Bewegung aus, schattenhaft, wellenartig, als krümme sich der Raum vor mir. Mir fiel es schwer, die Gestalt zu betrachten, da sie sich ständig verformte. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen in Körners Gedanken zu einer Einheit, die er nicht mehr unterscheiden konnte. Ich sah Gliedmaßen, die sich extrem verlängerten, wie lebende Wurzeln ihre Gestalt veränderten, sich verformten, aus der Dunkelheit schnellten und sich wieder blitzartig zurückzogen.
Um zu erfahren, wie alles zusammenhing und mit welcher Kreatur er es hier zu tun hatte, musste er unbedingt den Beginn der Tagebucheintragung lesen. Die Ereignisse des gesamten Jänners fehlten ihm noch. Jetzt war es zu gefährlich, zum Auto zurückzuschleichen. Sobald er sich ausgeschlafen hatte, würde er den fehlenden Rest des Tagebuchs nachlesen. Im selben Moment, als er die Lampe ausknipste, sank sein Kinn auf die Brust. Während er tief atmete und sich in wirren Träumen verlor, bewegte sich etwas in der Dunkelheit des Tunnels. Körners Lider zuckten, sein Körper verkrampfte, und ihm schien, als falle er rücklings in einen tiefen Abgrund. Er bekam nicht mit, wie sich knarrend einzelne Wurzeln aus dem verkrüppelten Gewächs erhoben und über den Boden krochen. Das Gebilde verformte sich, aus der Finsternis schlängelten sich dunkle, dürre Arme auf Körner zu.
Aste, Wurzeln, Knollen und Ranken drängten aus den Wänden, brachen aus dem Boden hervor und verwandelten das Bergwerk in ein lebendiges Labyrinth. Die Erde unter dem gesamten Dorf bebte. Aus den Fundamenten der Kirche, des Gasthauses und des Krämerladens krochen die Wurzeln ans Tageslicht. Aus den Kellern des Gemeindearchivs, der Gaslight Bar und den Wohnhäusern brachen die Wurzeln durch die Bodenplatten. Wie Schlangen drangen die Ausläufer des Gezüchts in die Hauswände ein, schoben sich durch das Mauerwerk, durch den Zement, die Ziegel und Eisengitter, an den Abwasserrohren vorbei, um die Stromleitungen und Telefonkabel in den Mauern, entlang der Heizungsrohre. Vorsichtig umrundeten sie die Nägel und
Schrauben in den Wänden, bohrten sich durch die Dämmwolle hinter dem Verputz, entlang der Silikondichtungen, bis in die Zwischenwände der Abstellräume, Bäder, Toiletten und Wohnzimmer. Dort wucherten sie und breiteten sich aus, bis ihnen der Platz zu eng wurde.
Tapeten und Fliesen lösten sich von den Wänden, Bilder fielen zu Boden, Bänke verrutschten, Bretterverschläge krachten auseinander. Die Extremitäten brachen in die Wohnzimmer und schnalzten gierig durch die Räume. Schlangengleich glitten sie in die Höhe und fuhren in jedes Zimmer, gierig auf der Suche.
Die Einwohner schreckten aus dem Schlaf. Noch bevor sie ahnten, was geschah, brachen ihre Körper, knackten Wirbel, riss Fleisch.
Körner fuhr schreiend aus seinem Traum. Dunkelheit umgab ihn. Was für eine Hölle! Diese Nachtmahre wurden immer realer, als erlebe er sie hautnah mit. Er schmeckte Blut, das ihm aus der Nase lief, und wischte es fort. Danach
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