Der Judas-Schrein
Rücken. Er hatte ihn zum ersten Mal in diesem Tagebuch gelesen. Woher zum Teufel kannte Weißmann diese Bezeichnung? Was hatten Körners Eltern mit dieser Verschwörung zu tun? Seine Mutter hatte bestimmt nicht dasselbe mit ihm vorgehabt, das den Krajnikgeschwistern widerfahren war. Hätte sie willentlich ihren eigenen Sohn geopfert? Sein Vater hatte sich gewehrt, daraufhin waren seine Eltern ermordet - ein Opfer der Flammen geworden. Unmöglich! Es gab nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden.
Die Autotür ließ sich lediglich einen Spalt breit aufdrücken. Körner zwängte sich aus dem Wagen in die Dunkelheit, wo es nach Wurzelwerk und feuchter Erde roch. Immer mehr klumpiger Lehm blieb an seinen Schuhsohlen kleben, als er langsam auf den matten Lichtkreis zuschritt, der am Tunnelende zu sehen war.
Draußen regnete es. Körner stand am Eingang des stillgelegten Bergwerkstunnels. An dieser Stelle blickte er direkt auf den Friedhof und die angrenzende Aufbahrungshalle. Neben ihm befanden sich die Wellblechhütten und der Haupteingang zum Segen-Gottes-Schacht. Die Dorfbewohner würden Körner überall vermuten, gewiss das Flussufer nach ihm absuchen, und die ins Gebirge führenden Waldwege durchkämmen … doch bestimmt nicht den Greiner Friedhof.
Der Wind zerrte an Körners Pullover. Er taumelte zwischen den Grabreihen hindurch, den Oberkörper gekrümmt, die Hände mit den verbrannten Gelenken unter die Achseln geklemmt. Die Wunden loderten wie Feuer, ständig füllten sich die Brandblasen mit Wasser, bis sie unter dem Druck der Arme aufplatzten. Die Stichwunde am Oberarm pochte ebenfalls, pausenlos sickerte Blut durch den Druckverband. Er brauchte dringend ein schmerzstillendes Mittel, warme Kleider und etwas zu Essen, sonst würde er die kommende Nacht nicht überstehen. Körner stolperte am Grabaushub der Krajnikgeschwister vorbei.
Hügelreihe um Hügelreihe bewegte er sich über den Friedhof. Der Regen lief sein Gesicht hinab und trübte seinen Blick. Irgendwo musste es doch sein! Der alte Apfler hatte das Grab von Körners Eltern beinahe dreißig Jahre lang gepflegt, doch Körner selbst hatte es nie gesehen. Trotzdem wusste er, wonach er zu suchen hatte, nach einem schlichten Grabstein mit zwei identischen Todesdaten: dem 27. September 1976! Drei Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag.
Vielleicht gehe ich ja mal zum Grab meiner Ellern, kamen ihm plötzlich seine Worte in den Sinn, mit denen er Berger versprochen hatte, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Nach Abschluss der Ermittlungen wollte er das Grab besuchen, doch innerhalb so kurzer Zeit hatte sich so vieles geändert. Seine Kollegen waren der Reihe nach ermordet worden, selbst der Unfalltod seiner Eltern erschien mittlerweile in einem anderen Licht, und die Ermittlungen waren alles andere als abgeschlossen. Dann, plötzlich, stand er vor einem rechteckigen Steinklotz, der hüfthoch aus einem Erdhügel ragte: Alexander und Elisabeth Körner. Ein Kerzenstummel in einem windschiefen Glashäuschen schmückte das Grab inmitten eines Bewuchses aus dichtem Dornenkraut.
Aus einem Schuppen holte Körner Spitzhacke und Spaten, mit denen der alte Apfler bereits die Krajnikkinder exhumiert hatte. Ohne lange zu überlegen trieb er die Hacke in das erstaunlich lockere Erdreich. Immer wieder trat er den Spaten in den Lehmboden, bis seine Schuhe über und über mit Erde verklebt waren. Der Regen erleichterte ihm die Arbeit nicht, immer häufiger rutschte seine Sohle vom Spaten ab. Sein eigener Atem schwebte wie Dampf vor seinem Gesicht. Bald brannten ihm die Augen vom Schweiß. Seine Handflächen sprangen auf, Blut und Erde vermischten sich und brannten wie Feuer in den offenen Wunden. Er biss die Zähne zusammen und schaufelte ohne Pause einen Spatenstich nach dem anderen aus dem Loch.
Zwei Stunden später war er bis zum Umfallen erschöpft. Er hatte die Grube bis auf einen Meter fünfzig tief ausgehoben, sodass nur noch seine Schultern und der Kopf aus dem Loch ragten. Die ersten Holzstücke schauten aus dem Matsch heraus, der unter seinen Füßen zerquoll. Die Grube hatte nichts mit dem fachmännischen Geviert gemeinsam, das der alte Apfler mit seinen Helfern ausgehoben hatte, viel eher glich es einem Schlammloch, das sich langsam mit Grundwasser füllte. Mittlerweile kam ihm sein Plan wie eine verrückte Idee vor. Er war kein Arzt oder Gerichtsmediziner. Wie sollte er in den seit siebenundzwanzig Jahren in festem Lehm eingebetteten
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