Der Judas-Schrein
spritzte.
»Wie interessant, Körner. Sie haben sich Ihr eigenes Grab geschaufelt! Hier hätten wir Sie am wenigsten vermutet.«
Er sah auf. Hinter dem Grubenrand standen drei ausgemergelte Gestalten, in Mäntel gehüllt, die Regenkapuzen tief ins Gesicht gezogen, als hätten sie in diesem Unwetter bereits seit Stunden nach ihm gesucht. Körner richtete sich auf. Weißmann, Gehrer und Hermann Goisser, der Elektriker, standen wie Götzen um ihn herum. Sie stützten sich auf Spaten, wobei der Krämer seine Schrotflinte in der Armbeuge hielt. Diesmal war sie garantiert geladen!
»Weißmann hat Ihren Bruder auf dem Gewissen!«, rief Körner dem jüngsten der Männer zu.
Goisser reagierte nicht auf die Worte, sondern streckte bloß die Hand nach der Schrotflinte aus. Der alte Gehrer reichte ihm die Waffe. Goisser spannte beide Hähne, den Doppellauf auf Körners Stirn gerichtet. »Auf die Knie, Gesicht in den Schlamm, und keine Bewegung! Schaufelt ihn zu!«
Weißmann und Gehrer stachen die Spaten ins Erdreich. Schlammbrocken landeten auf Körners Brust. Als er aufsah und jeden einzelnen von ihnen mit Blicken maß, lief ihm das Regenwasser in die Augen. »Ihr habt meinen Vater ermordet«, flüsterte er.
»Auf die Knie!«, wiederholte Goisser.
»Erschieß ihn auf der Stelle!«, forderte Gehrer.
Weißmann schüttelte den Kopf. »Er ist uns noch eine Antwort schuldig, nicht wahr?« Der Bürgermeister versuchte zu lächeln, verzog jedoch schmerzverzerrt das Gesicht. Ein graues Pflaster klebte auf seinem Nasenrücken, der zu doppelter Breite angeschwollen war.
Die Spaten wurden weiter in die Erde gestoßen, klumpiger Lehm fiel in das Grab.
»Auf die Knie jetzt!« Goisser fuchtelte mit dem Doppellauf der Flinte.
Körner wartete keine Sekunde länger. Seine Hände schnellten nach vorne, packten Goisser an den Hosenbeinen und rissen ihn von den Füßen. Goisser ruderte mit den Armen, stürzte und krachte mit dem Rücken auf die Kante der Grabeinfassung. Die Flinte landete im Schlamm. Während Goissers schlaffer Körper in die Grube rutschte, war Körner mit einem Satz aus dem Loch. Noch während er sich mit einer Drehung aufrichtete, packte er den Griff seines Spatens und schwang das Blatt in einem Halbkreis herum. Das Eisen krachte Gehrer ins Gesicht, der sogleich zu Boden ging.
»Verfluchter Bastard!«, brüllte Weißmann. Er ließ sich fallen, um im Schlamm nach der Schrotflinte zu wühlen.
Körner hieb dem Mann die Kante des Spatenblatts in die Rippen. Während Weißmann gekrümmt zur Seite fiel, fragte sich Körner, woher er die Energie für diesen Kampf genommen hatte. Mit zittrigen Händen ließ er den Spaten fallen und lief zum Ausgang des Friedhofs. Er fühlte sich, als renne er splitternackt durch eine eisige Winterlandschaft. Der Wind, der ihm durch die nassen Kleider fuhr, biss in seine Haut. Seine Hände waren wieder aufgesprungen, und in seinen Beinen schmerzte jeder Muskel. Trotzdem rannte er, wie er es noch nie zuvor getan hatte.
»Ich kriege dich!«, hörte er Weißmanns wütende Stimme hinter sich.
Unmittelbar darauf krachten zwei Schüsse. Körner zuckte unwillkürlich zusammen, als der Kies hinter ihm hochspritzte. Wie durch ein Wunder hatten ihn die Ladungen verfehlt.
Seine Ohren wurden taub. Er hörte weder, ob ihm die Männer folgten noch das Knirschen des Schotters unter seinen Sohlen. Er spürte bloß seinen eigenen rasselnden Atem und das pochende Blut in seinen Ohren. Wie ein gejagtes Wild hetzte er durch das schmiedeeiserne Friedhofstor, über den Parkplatz hinweg zum Bergwerkstunnel.
28. Kapitel
Als Körner das Gemurmel der Männer am Bergwerkseingang hörte, war er bereits tief in den Tunnel gelaufen. Er hatte sich an seinem Wagen vorbeigezwängt und war immer weiter gerannt, bis der letzte Rest des Tageslichts einer vollständigen Dunkelheit gewichen war, in der Körner nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Da stieß er mit dem Fuß scheppernd einen Blecheimer um und stoppte.
Körner lehnte sich an die Wand, keuchend, den Oberkörper gegen die Erde gepresst, den Hinterkopf an einen Holzbalken gelehnt. Er versuchte, seine Atmung so flach wie möglich zu halten, um den Geräuschen vom Eingang zu lauschen. Nichts rührte oder bewegte sich, keiner der Männer folgte ihm in den Tunnel - sicher holten sie Verstärkung und rüsteten sich mit Lampen und Waffen aus. Diesmal würden sie nichts überstürzen und planvoller vorgehen.
Körners Atmung und Puls beruhigten sich.
Weitere Kostenlose Bücher