Der Judas-Schrein
fielen ihm erneut die Augen zu.
Rückblende IV
Grein am Gebirge, 1937
Paulsen, Grieg und Dittrich waren am Ende des Hauptstollens des Segen-Gottes-Schachts auf engstem Raum zugeschüttet. Das rasant steigende Wasser wurde von einer unterirdischen Quelle durch eine Druckröhre nach oben gejagt. Es stand Paulsen bereits bis zu den Oberschenkeln, und in der Kuppel über ihren Köpfen befand sich noch ein Luftraum von knapp fünfzehn Kubikmetern, der allerdings rasch schwand.
Mit etwas Glück konnte die komprimierte Luft den Wasseranstieg stoppen. Aber wann würde dieses Gleichgewicht erreicht werden? In wenigen Minuten würden sie es wissen, länger konnte es nicht dauern, bis das Wasser über ihre Köpfe bis zur Decke stieg.
Die an die Decke geklemmte Karbidlampe warf ihr spärliches Licht an die Erdwälle, welche die Männer umgaben. Zu dritt hatten sie den Griff der Leuchte abmontiert, damit die Lampe so hoch wie möglich hing und das zunehmende Wasser nicht die Flamme auslöschen würde. Die Flut umspülte Paulsens Fingerspitzen. Jetzt, wo er reglos dastand und innerlich gegen die Kälte des Wassers ankämpfte, spürte er, wie es Sekunde um Sekunde stieg. Zuerst über die Fingerspitzen, dann bis zum zweiten Fingerglied und zum Handrücken. Im nächsten Augenblick war der Daumen unter Wasser. Paulsen fühlte, wie die Kälte an seinem Handgelenk emporkroch.
Sie standen im Kreis und starrten einander an. Die Wasseroberfläche war glatt, doch Paulsen spürte die Strömung darunter, sie zog an seiner Hose, drückte sanft gegen die Oberschenkel.
»Wir haben keine Chance befreit zu werden«, flüsterte er. In dem engen Raum, der ihnen blieb, klang seine Stimme gedämpft. Niemand antwortete.
»Der Hauptstollen ist mindestens in einer Länge von zehn Metern eingebrochen. Wir können uns nicht durchgraben, auf die Gruppenwehr brauchen wir gar nicht erst zu hoffen, die müssen sich erst einen Weg vom Bergeaufzug über den Hauptstollen in den ersten Luftraum schaufeln und sich dann noch einmal durch diese zehn Meter graben.«
»Hör auf! Wir wissen es!«, brüllte Dittrich. »Wir sind verdammt noch mal vom Regen in die Traufe geschlittert. Ach, Scheiß auf das Wasser! Wären wir doch bei der Abzweigung geblieben.«
»So arg hat es mich noch nie erwischt«, gab Grieg zu. »Das Wasser steigt rasch. Wir haben nur eine Chance: graben!«
»Durch die zehn Meter?«
»Vielleicht sind es weniger«, antwortete Grieg. »Uns bleibt nur eines: graben, so schnell es geht!«
»Und den gesamten Sauerstoff verbrauchen?«, wandte Dittrich ein.
Grieg lachte gequält auf »Bevor wir ersticken, ersaufen wir sowieso.«
Plötzlich musste Paulsen wieder an seinen Vater denken. Am Ende ereilte ihn das gleiche Schicksal wie seinen alten Herrn. Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Zehn Minuten, fünfzehn? Die Flut konnte nur noch um eineinhalb Meter steigen, dann stand der Raum unter Wasser.
Doch bevor es so weit kam, würde die Flamme jener Lampe verlöschen, die am Haken des Deckenbalkens hing. Paulsen würde also in völliger Dunkelheit sterben - nicht einmal hören, wie seine Kumpel nach Luft rangen, sondern nur die Unterwasserströmung spüren, die sie verursachten, wenn sie verzweifelt mit den Armen und Beinen um sich schlugen. Wie lange konnte ein Mensch die Luft anhalten? Zwei Minuten, drei oder vier? Würde er ohnmächtig werden? Würde er verzweifelt nach Luft schnappen und gierig Wasser in die Lungen ziehen? Oder würde die Kälte des Wassers vorher einen Herzstillstand verursachen?
Grieg schlug Paulsen mit der flachen Hand ins Gesicht. »Grabt!«
Paulsen spürte den Schlag zunächst gar nicht, zu weit war sein Körper unterkühlt. Das Wasser reichte ihm bereits bis zum Bauch. »Grabt!«, wiederholte Grieg dumpf.
Dittrich tauchte unter. Auch Paulsen tauchte mit dem Oberkörper unter Wasser und tastete mit den Händen den Boden ab. Da spürte er den Spatengriff. Er watete zur Einbruchsteile, riss das Werkzeug hoch und stieß es knapp über der Wasseroberfläche in die Erde. Durch wie viel Meter Erdreich konnten sich zwei Menschen in zehn Minuten graben? Es war unmöglich! Dennoch rammte er den Spaten wieder und immer wieder in die Erde, bis sich der Beginn eines Tunnels abzeichnete. Kalter Hauch stieg vor seinem Gesicht auf. Obwohl er wie besessen arbeitete, zitterte er am gesamten Körper. Dittrich schaufelte ebenfalls. Wahrscheinlich dachte auch er nicht über die Aussichten ihres Versuchs nach, sondern grub, weil Grieg
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