Der Judas-Schrein
schwarze, lebende Wurzel, die sich in die Höhle schob. Am Ende des Tentakels befand sich ein Maul, das gierig ins Wasser schnappte. So rasch, wie sich die Schnauze durch die Wand gebohrt hatte, so rasch war sie im Wasser verschwunden. Meterlang schob sich die Wurzel nach, wurde immer dicker, scheinbar ohne Ende.
Hinter Paulsen brach ein weiterer Teil aus der Wand. Ein zweiter und dritter Arm wühlten sich durch die Erde. Eilig glitten sie ins Wasser und schlängelten sich auf die Männer zu.
Der erste Arm erreichte Dittrich. Paulsen beobachtete es hilflos. Dittrich brüllte auf, als er herumgerissen wurde. Wie auf einem Unterwasserschlitten raste er los, eine Welle vor sich herschiebend. Als er mit dem Kopf gegen die Lampe schlug, erlosch das Licht.
In der Dunkelheit hörte Paulsen seinen Freund immer noch brüllen, lauter als zuvor. Paulsen zog sich zum Balken, bis er ihn mit der Nasenspitze berührte. Er roch das Holz, schmeckte das erdige Wasser.
Dann begann auch Grieg zu brüllen. Doch sein Schrei erstickte jäh in einem Gurgeln unter Wasser. Nach einem Krachen verstummte auch Dittrichs Gebrüll. Paulsen atmete flach. Das Wasser erreichte seine Ohren, umspülte seinen Mund. Das Gesicht an den Deckenbalken gepresst, rang er verzweifelt nach Atem.
Die letzten Sekunden verstrichen! Seine Kumpel waren tot. Er wusste, es waren auch seine letzten Augenblicke. Er würde Maria und die Kinder nie wieder sehen. Da spürte er einen Arm an seiner Seite behutsam unter den Kittel gleiten. Die weiche Spitze tastete sich unter das Hemd, wo sie seine nackte Haut berührte. Paulsen erstarrte. Woher zur Hölle kam dieses Ding? Warum ertrank es nicht?
Paulsen hielt den Atem an. Die Berührung war unangenehm weich, wie ein kalter Schwamm presste sich das Wesen an seinen Rücken. Langsam schob sich der Tentakel unter dem Hemd an seiner Wirbelsäule hoch. Paulsen wagte nicht, sich zu bewegen. Da spürte er den Stich in der Wirbelsäule. Etwas bohrte sich tief in sein Rückenmark. Der Schmerz war unbeschreiblich.
Paulsen wollte schreien, doch das Wasser schlug über seinem Kopf zusammen.
5. Teil
Die Abrechnung
Freitag, 12. September
29. Kapitel
Aus dem dunklen Abgrund des Tunnels wankte Körner auf den grauen Fleck zu, der den Ausgang bedeutete. Er konnte noch nicht einmal schätzen, wie spät es war. Das bleierne Grau jenseits des Bergwerkseinganges mochte alles Mögliche bedeuten, Morgenzwielicht oder verregneter Nachmittag. Jedenfalls war es nicht mehr Nacht, sondern bereits Freitag, sein fünfter Tag in Grein.
Körner wollte nicht glauben, dass all das tatsächlich passiert war, was er seit Montag miterlebt hatte: Marias Tod, Basedovs, Bergers, Philipps und Sabriskis Ermordung, die Enthüllung über seine Eltern und die Verschwörung der Dorfbewohner. Er wollte an einen endlos langen Albtraum glauben, aus dem er erwachen würde, sobald er die Augen aufschlug, wollte wieder in seinem Wiener Büro sitzen, von Jutta Koren einen neuen Fall erhalten und mit Berger und Philipp losziehen, um einen Eifersuchtsmord in einer Wohnanlage in einem Wiener Randbezirk zu klären … doch als er vor seinem Audi stand, die Hände auf dem kalten Blech der Motorhaube, wusste er, dass sich dieser Wunsch nicht erfüllen würde. Alles war anders gekommen, sein Leben war um hundertachtzig Grad herumgerissen und vollständig ruiniert worden.
Körner starrte auf den linken Vorderreifen des Audis. Erst jetzt bemerkte er, dass er den Wagen auf die Zacken eines abgebrochenen Rechens geparkt hatte. Der Reifen war platt, der Wagen stand mit Schlagseite auf der Felge. Doch für seinen Plan, der während der Nacht im Schacht in ihm gereift war, brauchte er das Auto nicht - nur was auf dem Beifahrersitz lag.
Ein kalter Windstoß fuhr vom Bergwerkseingang in den Tunnel. Körner schloss seinen brüchigen Mantel bis zum Hals. Aus der rechten Manteltasche lugte die Stabtaschenlampe, aus der anderen ragten drei Dynamitstangen. Nur der Sprengstoff aus der ersten Lage der Holzkiste war noch brauchbar gewesen. Der Rest des Dynamits, vor allem die Stangen auf dem Boden, hatten sich verflüssigt. Das Nitroglycerin hatte die Hülle aufgeweicht und war förmlich zu einem gelben, stinkenden, öligen Brei zerronnen. Mit angehaltenem Atem und einer unendlichen Ruhe hatte Körner die drei Stangen aus der Kiste entfernt, ohne den Rest anzufassen.
Gestern Nachmittag hatte er den Wagen so tief in den Tunnel gefahren, dass die Fahrertür nur noch halb aufging.
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