Der Judas-Schrein
Schultern und drückte ihn mit seinem gesamten Gewicht hinunter. Körner konnte gerade noch seine Lungen füllen, da schlugen die Wellen abermals über seinem Kopf zusammen. Doch diesmal ließ die Kälte seine Muskeln erstarren. Im trüben Wasser war gar nichts zu erkennen. Unter sich spürte er die Pflastersteine des Dorfplatzes. Er wollte sich abstoßen, als er eine schlangenhafte Bewegung bemerkte, die aus der Dunkelheit kam und an seinem Bein entlangstreifte. Sein Herzschlag setzte aus. Voller Panik schoss er herum. Seine Arme drängten nach oben, durchbrachen die Wasseroberfläche und bekamen einen Kopf zu fassen. Vom Wasser gedämpft, hörte er Doktor Webers Schrei, ließ aber nicht los. Wie ein Besessener klammerte er sich an die Haare des Doktors. Wenn er ertrinken sollte, dann würde er den Doktor mit sich in die Tiefe reißen.
Füße traten nach Körner, während Weber versuchte, Körners Finger aufzubiegen. Als Körners Luft knapp wurde, erinnerte er sich an eine Tae-Kwon-Do-Technik, die er bisher nur im Dojo trainiert und nie in der Praxis angewendet hatte. Er packte Webers Kopf fester, krallte sich mit den Fingern unter sein Kinn und riss den Schädel um neunzig Grad herum. Sogar unter Wasser hörte er das Brechen der Halswirbel.
Augenblicklich wich der Druck von seinen Schultern. Wie eine Rakete durchstieß er die Wasseroberfläche und atmete gierig ein. Neben ihm brodelte es. Krajnik strampelte mit Armen und Beinen, dass es schäumte. Aus der braunen Flut ragten zwei lange, glänzende, biegsame Gliedmaßen, die den Brustkorb des Metzgers umschlungen hatten. Einen Atemzug später war Krajnik weg, nur ein Schuh schwamm noch im Wasser. Daneben trieb Webers Leiche auf den Wellen, mit aufgerissenen Augen, den starren Blick zum Himmel gerichtet. Ohne lange zu überlegen, begann Körner zu kraulen. Dabei wurde er von einem einzigen Gedanken getrieben: Nur weg von dieser Stelle! Er schwamm quer durch den Hochwassersee auf das Dach der Gaslight Bar zu, von der nur noch die Regenrinne, die Satellitenschüssel und ein Schornstein aus der Flut ragten. Die Strömung half ihm dabei, da die Flut in einem großen Strudel über dem Dorfplatz zu zirkulieren begann, wodurch er direkt auf die Diskothek zugetrieben wurde. Unbeholfen versuchte er, das Knie über die Regenrinne zu heben. Mit einem Ruck zog er sich aus dem Wasser, Schindel für Schindel über das Dach empor. Was immer Krajnik gepackt und in die Tiefe gezogen hatte - ihn würde es nicht mehr erwischen.
Nach einer Verschnaufpause kletterte Körner weiter. Als er auf den nassen Schindeln ausrutschte, griff er im Reflex nach dem Gestänge der Satellitenschüssel. Knirschend verbog sich die Eisenstrebe, die dafür konstruiert war, die Anlage vor Sturmböen zu sichern, doch keinen Mann zu halten. Er zog sich an der Konstruktion hoch, bis er den First des Satteldachs erreicht hatte. Zitternd, an den Schornstein gekauert, saß er an der höchsten Stelle, von wo er sich umschaute.
Sein Atem dampfte. Durch den Hauch sah der mittlerweile über zwei Meter unter Wasser stehende Ortskern gespenstisch aus. Mehr als fünfhundert Bewohner waren eingeschlossen. In Heidenhof war die Situation bestimmt nicht besser. Das Wasser war überall, soweit das Auge reichte, es konnte nicht versickern, da der voll gesogene Boden keine zusätzliche Feuchtigkeit mehr aufnehmen konnte. Es würde Wochen dauern, bis die Flut zurückging.
Körner hauchte sich in die Faust. Er zitterte am ganzen Leib. Irgendwie musste er die nassen Kleider los werden, die tonnenschwer an seinem Körper hingen, doch brachte er nicht die Kraft auf, sich zu erheben. Er wollte nur reglos dasitzen, um Kräfte zu sammeln. Wie sollte er mit Verena jemals aus diesem Ort kommen? Im Moment sah er keine Möglichkeit, sie aus dem Häuslein zu holen und mit ihr unbemerkt aus Grein zu verschwinden.
Wie durch einen Schleier nahm er die Umgebung wahr: Äste, Firmenplakate, Kartons, Eimer, Tischdecken, Holzstühle und leere Sandsäcke trieben im Wasser. Die mächtigen Torbögen zwischen den Häusern, die zu den Schuppen und Hinterhöfen führten, wirkten nunmehr wie niedrige Gewölbe, durch die das trübe Wasser floss. In den Seitengassen hatten sich Autos zwischen die Häuser und umgerissenen Bäume verkeilt. Körner sah, wie Hände tonlos von innen gegen die Scheiben klopften. Niemand half den Menschen, sollten sie doch verrecken! Die Brut hatte nichts Besseres verdient. Jahrelang waren sie ungeschoren geblieben - doch
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