Der Judas-Schrein
einem der Fächer. »In wenigen Minuten werden Sie sich an nichts mehr erinnern.«
Körner wusste, ihm blieben nur noch wenige Sekunden, denn gleich würde er die kalte Nadel unter der Haut spüren und erst wieder erwachen, wenn ihn, eingeschlossen im Auto, die eiskalte Flut umklammerte. Hilflos würde er mit ansehen müssen, wie im Wageninneren das Wasser anstieg, während das Auto in der Trier versank, bis es im Schlamm des acht Meter tiefer gelegenen Flussbetts versackte. Sein Albtraum, unter Wasser zu stehen und durch ein Glas die trübe Unterwasserwelt zu beobachten, würde Wirklichkeit werden. Wie hätte es auch anders kommen können? Er war der einzige Außenstehende, der die Wahrheit über Grein und seine Bewohner kannte. Sie mussten ihn so rasch wie möglich beseitigen, wie all die anderen, die sie bereits aus dem Weg geräumt hatten - so, wie sie bisher immer vorgegangen waren.
Weber drückte den Kolben der Spritze an, sodass die ersten Tropfen aus der Nadel quollen. Da kreischte der Mann mit dem Stiernacken und dem hochroten Kopf auf. Verena hatte den Mund frei bekommen und dem Koloss in die Hand gebissen. Das Mädchen riss sich aus der Umklammerung und rannte auf Doktor Weber zu.
»Fangt die Göre ein!«, rief Weißmann aufgebracht. Verena lief auf den Arzt zu, den Kopf gesenkt, die Arme an den Körper gepresst. Wie bei einem Hindernislauf hetzte sie zwischen den Leibern hindurch. Ihr schwarzer Pilzkopf flog hinter ihr her. Als Weber erkannte, worauf sie zusteuerte, schnellte sein Arm mit der Injektion reflexhaft in die Höhe. Doch als Verena ihn erreichte, griff sie nicht nach der Spritze sondern riss ihm das Sprechfunkgerät aus der Hand.
Während sie weiter durch die Kirche floh, hielt sie es sich vor den Mund. »Hilfe! Hilfe! Kann mich jemand hören?«
»Nehmt ihr das verdammte Ding weg!«, herrschte Weißmann die umstehenden Männer an, die sich sofort in Bewegung setzten.
»Die Sendetaste!«, brüllte Körner. »Du musst auf die Taste mit den Rillen drücken!« Sein Kopf wurde hart zu Boden geschlagen. Er bäumte sich auf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Verena alle Tasten zugleich drückte.
Körner wurde schwarz vor Augen. »Nicht die Kanalwahl verstellen …«, presste er hervor.
»Hilfe!«, hörte er Verenas atemlose Stimme. »Mein Papa und ich werden in der Greiner Kirche gefangen gehalten …«
Ein Mann fing Verena ab, packte ihr Handgelenk und wand ihr das Gerät aus den Fingern. In dem Moment, wo er ausholte, um es auf dem Boden zu zerschmettern, tönte in weiter Ferne eine gewaltige Explosion. Die Kirchenfenster klirrten. Das Donnern der Detonation war durch das gesamte Tal zu hören, und Sekunden später hallte es vom Gebirge zurück.
Körners Widerstand ließ nach, seine Muskeln erschlafften und er sank zu Boden. Es war vollbracht. Gnade ihnen Gott, angesichts dessen, was jetzt auf sie zukam.
Die Köpfe der Dorfbewohner zuckten herum. Noch hatte niemand begriffen, was passiert war. Weißmann löste sich als Erster aus der Erstarrung. Er rannte an den Kirchenbänken vorbei zum Ausgang, riss die Flügeltür auf und blieb als dunkle Silhouette im Türrahmen stehen. Vor ihm war der Tag in milchiges Grau getaucht. Körner sah das düstere Einerlei aus Wolken und Nieselregen. Von draußen strömte eisige Luft in die Halle und brachte die Weihrauchkessel zum Schwingen.
Für Sekunden war es in der Kirche totenstill.
»Der Damm ist weg.« Weißmanns Flüstern war nur leise aus dem Pfeifen des Winds herauszuhören.
Da drehte er sich um und brüllte: »Das Hochwasser kommt!«
Augenblicklich stürzten die Leute zur Tür. Sobald der Eingang verstopft war, rannten die übrigen Bewohner zu den Fenstern, um vom Kirchberg auf den Ort zu blicken. Auch Bert Krajnik und die Männer, die Körner zu Boden hielten, sprangen auf. Niemand wollte glauben, was der Bürgermeister gesagt hatte. Wie Schaulustige drängten sie sich um einen Stehplatz vor den Fenstern.
Körner rappelte sich auf. Seine Glieder schmerzten bei jeder Bewegung. Er versuchte eine Faust zu formen, doch seine Finger waren empfindungslos und wirkten tot. Die blutverkrustete Haut spannte, die Brandblasen schmerzten. Erst als er einen kurzen Schwindelanfall überwunden hatte und aufrecht vor dem Beichtstuhl stand, merkte er, dass er allein war. Alle anderen waren zur Tür geflohen. Nur Verena stand einige Meter von ihm entfernt. Sie stürzte auf ihn zu und drückte sich an ihn.
Er umarmte sie, strich ihr durch die dichte,
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