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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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nackenlange Mähne. In diesem Moment war sie nicht länger die rebellische Vierzehnjährige mit dem Piercing, die heimlich rauchte … sie war einfach nur sein kleines Mädchen, das er um jeden Preis aus diesem vermaledeiten Ort bringen musste.
    Er packte sie am Arm, um sie zum Ausgang zu zerren, aber sie wehrte sich wie ein Tier. In ihren Augen sah er die Angst und die Abscheu vor den Dorfbewohnern, die Schulter an Schulter wie eine Wand aus dunklen Mänteln vor dem Kirchentor standen.
    »Wir müssen hier raus!«
    Sie deutete in die andere Richtung. »Ja, aber zur Sakristei.«
    Unentschlossen blickte sich Körner um. War das ihre Chance, unbemerkt aus der Kirche zu fliehen? Als plötzlich der Boden unter ihren Füßen zu rumoren begann, als schieße eine gigantische Druckwelle durch das Erdreich, und eine brackige Wasserfontäne durch den Judas-Schrein nach draußen gedrückt wurde, ließ er Verenas Hand los. Die Schlammflut spritzte drei Bankreihen weit bis in die Mitte der Kirche. Augenblicklich breitete sich eine übel riechende Lache auf dem Boden aus. Weitere Schwalle ergossen sich durch die Lücke der geborstenen Holzlatten, als würde das Innere des Berges durch den Beichtstuhl erbrochen. Die Dorfbewohner vor den Fenstern fuhren mit entsetzten Gesichtern herum.
    Verena lief voran. Körner folgte ihr, vorbei am Altar, an den Heiligenfiguren, durch die Tür in die Sakristei. Die Stube war klein geraten, Folianten stapelten sich auf dem Schreibtisch, die Kästen waren mit Büchern gefüllt. Es roch nach Kerzenwachs. Mehr konnte Körner nicht erkennen, Verena war bereits durch die Tür ins Freie geschlüpft. Er rannte ihr hinterher, gelangte in einen Hof, hetzte weiter über die Schotterwege entlang der Heckenreihen bis zu einem Torbogen, der unmittelbar zum Abhang des Kirchbergs führte. Körner hielt inne. Sie befanden sich am Ende des alten Friedhofs. Auf der anderen Seite der Marmortafeln, Hügel und Grabreihen strömten die Dorfbewohner aus dem Kirchentor, wo sie sich vor der Steintreppe versammelten, die zum Dorfplatz führte.
    Für Körner und Verena gab es nur zwei Fluchtwege: entweder über den Friedhof zu den Dorfbewohnern oder geradewegs den Abhang hinunter … es sei denn sie verharrten an dieser Stelle. Noch hatte sie niemand entdeckt, da sämtliche Leute über den Dorfplatz und die Acker hinweg schockiert zum Flussbett der Trier starrten. Als Körner ihren Blicken folgte, erstarrte er. Der Damm war über eine Länge von mehreren hundert Metern gebrochen. Die Trier ergoss sich über die Deichkrone und riss immer mehr Erdreich mit sich. Wie eine Dominokette fiel der Damm in sich zusammen. Keine Talsperre konnte das Wasser aufhalten, das immer schneller über die Felder heranschoss. Unaufhaltsam steuerte die Flut auf den Ort zu, den sie jeden Moment erreichen musste.
    Dann war es soweit.
    Zunächst wurden Parkbänke umgerissen, danach Gartenzäune, Kinderschaukeln, Bäume und Straßenlaternen. Mit vernichtender Urkraft rollte die Wasserwalze durch die Gassen, spülte Autos und Verkehrsschilder vor sich her. Die braune Flut schlug an die Häusermauern und stieg und stieg, bis sie durch die Türen, Auslagen und Fenster in die Gebäude strömte. Strudel entstanden, an Wegkreuzungen trafen die Wasserwalzen aus zwei Richtungen aufeinander, sodass die Gischt bis zu den Dachgiebeln spritzte. Der gesamte Ortskern, eineinhalb Meter tief in den Wellen versunken, verwandelte sich in einen braunen, schlammigen See. Holzlatten, Fässer, Autoreifen, Äste und Wurzelwerk tanzten auf dem Wasser oder wurden vor der Flutwelle hergespült.
    Die Schutzwälle aus Sandsäcken, die sich vor den Häusern und Gärten befanden, wurden binnen Sekunden mit einer Leichtigkeit davongetragen, als hätten sie nie existiert. Körner konnte den Blick nicht von der unglaublichen Katastrophe wenden. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß des Dramas bewusst, das er heraufbeschworen hatte. Das Hochwasser würde sich zu einer gigantischen Chemie-Katastrophe ausweiten. Die Flutwelle, welche Grein und Heidenhof verschlang, war mit Chlor und Cadmium aus der chemischen Fabrik in Spoisdorf verseucht. Die Chemikalien steckten im Wasser, drangen ein in die Häuser, in die Kellerabteile, in das Erdreich, die Bergwerkstunnel und sogar in das Gewölbe unter der Kirche. Ein Schauer erfasste Körner. Er hatte das vollbracht, woran die Dorfbewohner vor über hundert Jahren gescheitert waren. Seine Sintflut würde das Wesen endgültig vernichten. Ähnlich, wie

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