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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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heute war der Tag gekommen, an dem mit ihnen abgerechnet wurde.
    Körner stierte ins Wasser vor sich. Hin und wieder platzten Luftblasen an der Oberfläche, Wellen kräuselten sich, doch er konnte keine weiteren Tentakel erkennen. Falls sie noch da waren, mussten sie sich auf dem Boden bewegen. Vielleicht waren sie tot. Langsam setzte der Nieselregen ein. Zunächst fielen kleine Tropfen ins Wasser, danach dickere. Der aufkommende Wind ließ Körner noch mehr frieren.
    Hin und wieder tönte ein Ruf durch den Ort, der an den Hauswänden widerhallte. Menschen spähten aus den Fenstern der oberen Stockwerke, einige hatten sich auf die Dächer niedrigerer Gebäude gerettet, die nur noch wie spitze, rote Dreiecke aus dem See ragten. Hunde und Katzen liefen verstört zwischen den Schornsteinen herum, standen in den Regenrinnen und starrten hinab, als wollten sie jeden Moment springen. Das Miauen klang schaurig einsam durch das Tal. Für einen Moment beruhigte sich das ständige Auf und Ab der Wellen, langsam klärten sich die Spiegelbilder der Häuser auf dem See, schmutzig gelbe Fassaden mit weißen Fensterrahmen, beigem Mauerwerk, braunen Dachvorsprüngen. Dahinter spiegelte sich der eintönig graue Himmel.
    Der Anblick wirkte so unrealistisch wie ein phantastisches Gemälde, das immer wieder vom Nieselregen zerpflückt wurde.
    Mit einem Mal schwappte eine neuerliche Flutwelle zwischen den Gassen auf den Hauptplatz, als hätten soeben die Nachwehen der Katastrophe eingesetzt. Möglicherweise hatten sich auch die Schleusen des Trieracher Staudamms geöffnet. Ein metallenes Knirschen ließ Körner aufhorchen. Aus der Seitengasse, in der sich Gehrers Laden befand, trieb ein Pumpwagen auf die Mitte des Dorfplatzes zu. Körner erinnerte sich, dass die Feuerwehrleute das Heizöl aus den privaten Kesseln der Keller abgepumpt hatten. Der Tank des Wagens musste randvoll mit Öl sein. Der Wasserdruck presste das Fahrzeug aus der Seitengasse, doch verfingen sich die Hinterräder mitsamt der Stoßstange an der Hausmauer, sodass der Verputz von der Wand brach. Glas splitterte. Eine umgestürzte Straßenlaterne bohrte sich durch das Führerhaus, spießte den Wagen regelrecht auf und verschwand zur Gänze darin.
    Körner roch es, noch bevor er es sah. Heizöl! Eine bläulichviolett schillernde Lache breitete sich auf der Wasseroberfläche rund um den Tankwagen aus. Plötzlich begann das Wasser zu zirkulieren. Da waren sie wieder! Lange Gliedmaßen schnellten durch den Ölteppich und peitschten über die Oberfläche. Das Ende der Katastrophe war noch lange nicht erreicht. Körner zog sich hoch, um zum Ortsende zu blicken. Wo sich einst die Tankstelle befunden hatte, trieben zwei umgekippte Tanklastwagen im Wasser. Auch dort glaubte er das Schillern auslaufenden Benzins zu erkennen. Das Cadmium und Chlor aus der Fabrik, gemischt mit dem Öl und Benzin aus den Tanks, würde eine tödliche Mischung ergeben. Bei dem Gedanken beschleunigte Körners Puls. Mit etwas Glück nahm das Gezücht das mit Giftstoffen versetzte Wasser in sich auf. Es sollte den Chemiedreck verschlingen und elend am Benzin verrecken!
    In diesem Moment kippte der ausgefahrene Kran eines Feuerwehrautos. Der Stahlarm mit dem Korb stürzte in die Starkstromleitung. Ein Mast knickte, die Kabel rissen, ihre Enden peitschten durch die Luft und fielen dann ins Wasser mit dem Ölteppich - doch nichts passierte. Kein Funke sprühte. Die Umspannwerke waren seit zwei Tagen überflutet, die Orte ohne Stromversorgung. Doch das Szenario brachte Körner auf eine Idee. Ein winziger Funke würde genügen, um den gesamten Ort hochgehen zu lassen, wodurch das Getier endgültig verbrannte.
    Ein Gluckern ließ Körner herumfahren. Er glaubte schon, die Fangarme würden sich aus der Flut erheben, um nach ihm zu greifen. Doch etwas anderes trieb im Wasser.
    »Verena, was zum Teufel tust du hier?«
    »Ich habe die Schlägerei vor der Hütte gehört.« Seine Tochter lag mit dem Bauch auf einer Holzpalette, die Beine im Wasser, mit den Armen rudernd. Wenige Meter trennten sie vom Dach der Gaslight Bar. Körner rutschte über die Schindeln bis zur Regenrinne, beugte sich nach vorne und zog das Ende der Palette zu sich heran. Da sah er etwas Großes, Mächtiges unter dem Wasser auf die Oberfläche zurasen.
    »Rasch!«
    Bei Verenas Versuch, auf die Dachrinne zu steigen, kippte die Palette und das Mädchen fiel ins Wasser. Körner fing sie am Handgelenk und zerrte sie mit einer groben Bewegung zu

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