Der Judas-Schrein
die Greifarme am Knochenmarkkrebs verreckt waren, würde das Gezücht jetzt die Chemikalien in sich aufnehmen und qualvoll verenden.
Plötzlich raste das Wasser wie eine Springflut über den Dorfplatz. So etwas hatte Körner noch nicht erlebt. In kürzester Zeit war der Dorfbrunnen zur Hälfte von dem gelbbraunen See verschluckt. Rund um die Marmorengel schossen Luftblasen in die Höhe, das Wasser fauchte und sprudelte wie ein Geysir. Für einen Augenblick dachte Körner an Sabriski, die bewusstlos in dem unterirdischen Gewölbe lag. Die Flut brandete mit immenser Gewalt gegen den Kirchberg. Als die Gischt meterweit emporspritzte, schrien die Menschen vor der Kirche auf. Das Wasser erhielt eine Eigendynamik, begann zu kreiseln und stieg immer höher.
»Papa, wohin?« Verenas Stimme riss Körner aus der Erstarrung.
Panik lag in ihrem Tonfall. Ihm selbst erging es nicht anders. Er sah sich um. Direkt hinter ihnen, unscheinbar in eine Nische gekauert, befand sich eine kleine gemauerte Hütte mit abgeblättertem Verputz und verfallenem Schindeldach, das Körner gerade mal bis zur Schulter reichte. An der Holztür hing ein rostiges Vorhängeschloss. Das musste das Unschuldige Häuslein sein, welches der Messdiener in seinem Tagebuch erwähnt hatte, worin die ungetauften Tot- und Fehlgeburten beigesetzt worden waren, da sie nicht in geweihter Erde bestattet werden durften.
Mit einem Fußtritt brach Körner das Vorhängeschloss entzwei und zog die Tür auf. Moderiger, fauler Gestank schlug ihm entgegen.
Er packte Verena am Pullover und schob sie in die Hütte. »Warte da auf mich!«
Körner drückte die Tür zu. Er brauchte Zeit, um sich einen anderen Plan zu überlegen, wie sie aus dem Ort gelangen konnten, ohne dass die Dorfbewohner sie in der Flut ertränken würden. Mit einem Mal sah er sich in der gleichen Situation wie der Messdiener, der nachts aus dem Ort flüchten wollte, um sich irgendwie nach Wien durchzuschlagen.
Als sich Körner aufrichtete und auf die Tragödie blickte, die sich unter ihm abspielte, blieb ihm fast das Herz stehen. Dutzende, nein Hunderte braune Gliedmaßen, allesamt ungeheuer lang wie enorme Schläuche, wanden sich im Wasser, züngelten aus der Flut und schnalzten umher, als stünden sie unter Strom. Immer mehr wurden sie, immer dicker, bis sie bald die Größe monströser Seeschlangen erreicht hatten.
33. Kapitel
Schrilles Sirenengeheul tönte aus dem Feuerwehrhaus zu Körner hinauf. Entweder hing die Sirene an einer Batterie oder an einem Generator, denn nach wie vor konnte es in Grein keine Elektrizität geben. Sekunden später schaltete sich eine zweite, weit entfernte, Sirene dazu, die nur aus dem nahe gelegenen Viehofen stammen konnte. Wenn das einen Katastrophenalarm auslöste, musste der Landeshauptmann eine Evakuierung von Grein und Umgebung anordnen. Mit etwas Glück würden in einigen Stunden die Helikopter des Katastrophen-Hilfsdienstes über dem Ort patrouillieren. Körner musste es nur schaffen, mit Verena so lange am Leben zu bleiben.
Plötzlich explodierte ein stechender Schmerz in Körners Rippen. Er wurde von hinten zu Boden gestoßen und landete mit dem Gesicht auf der Erde. Als er sich herumwälzte, sah er die wutverzerrten Fratzen von Doktor Weber und Bert Krajnik über sich. Zu zweit traten sie auf ihn ein. Der Metzger bückte sich schwerfällig, um Körner mit den Fäusten ins Gesicht zu dreschen. Körner robbte bis zum Bordstein vor dem Abhang. Bevor er sich hochrappeln konnte, packten ihn beide am Pullover. Ohne ein Wort zu sagen, rangelten die Männer, bis Weber schließlich merkte, dass sie die Kontrolle über Körner verloren, worauf er rief: »Hierher! Wir haben ihn!«
Körner hoffte, dass Verena, von Webers Schreien aufgeschreckt, nicht das Häuslein verlassen würde. Sie durfte den Verrückten um keinen Preis in die Hände fallen. Bevor das geschehen konnte, packte Körner die beiden Männer am Kragen und riss sie mit sich über die Böschung. Zu dritt verloren sie auf der von Wasser getränkten abschüssigen Wiese das Gleichgewicht. Sie rollten den Abhang des Kirchbergs hinunter, bis sie im eiskalten Wasser landeten.
Die Wellen schlugen über Körners Kopf zusammen.. Das beißend kalte Wasser drang ihm in Ohren und Nase. Er tauchte auf, schnappte nach Luft. Sogleich klammerte sich Krajnik an seinen Hals und wollte ihn in die Tiefe ziehen. Da schoss Weber prustend durch die Wasseroberfläche. Auch er stemmte sich unverzüglich auf Körners
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