Der Judas-Schrein
wieder! Merkwürdigerweise war er seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr in Grein am Gebirge gewesen, hatte seit damals Wolfgang Heck und die anderen Jugendfreunde aus dem Nachbarort nicht mehr gesehen, und trotzdem war sein Leben eng mit dem Ort verknüpft. Wie war das gekommen? Alles hatte mit Dana begonnen, einer in Wien lebenden Brasilianerin, die er als Fünfundzwanzigjähriger kennen lernte und heiraten wollte. Zur Trauung benötigte er für sich einen Auszug aus dem Geburtenbuch, doch da Grein am Gebirge zu klein war, musste er in den nächstgrößeren Ort fahren, auf das Standesamt in Neunkirchen. Und wer saß dort im Büro hinter einem Computerterminal und wickelte mit Mayonnaise an den Fingern ein Jausenbrot aus der Alufolie? Maria Schabinger, die vier Jahre lang in Heidenhof in den Schulbus eingestiegen und mit ihm und Wolfgang Heck in die Hauptschule nach Schwetz gefahren war. Er kannte sie noch als dreizehnjährigen Rotschopf mit Sommersprossen und Zöpfen. Jetzt war sie 25 und verteufelt attraktiv. Sie trug einen Rollkragenpullover, hatte langes rotes Haar und einen feurigen Blick. Die Sommersprossen waren ihr erhalten geblieben und sie hatte immer noch dieses sexy Aussehen, mit dem sie bereits die Jungs auf dem Schulhof verrückt gemacht hatte.
Maria hatte als Lehrmädchen auf der Gemeinde begonnen, arbeitete mittlerweile als Vorzimmerdame im Sekretariat des Bürgermeisters, leitete das Standesamt und hielt jeden Donnerstagvormittag Amtsstunden.
»Du heiratest?« Sie rollte mit den Augen. »Dana Perez-Giravi? Ein feuriges Teil, hm? Kein Wunder, du bist ja auch ein heißes Eisen.« Sie lächelte verschmitzt.
Obwohl sie ihn so lange nicht gesehen hatte, schien sie plötzlich eifersüchtig. Auf Teufel komm raus, begann sie mit ihm zu kokettieren, als gelte es, ihn dieser Frau wegzuschnappen, und zu seiner Schande musste er gestehen, dass er darauf einstieg. Während Marias Mittagspause gingen sie zum Essen in eine Pizzeria, wärmten die alten Schulgeschichten auf und erzählten sich gegenseitig, was sie seit der Schulzeit getrieben hatten. Er würde nicht so weit gehen, es Liebe auf den ersten Blick zu nennen, doch immerhin verwirrte ihn die Begegnung mit Maria so sehr, dass er noch am gleichen Abend in eine deftige Beziehungskrise schlitterte, bei der Dana das Geschirr an die Wand pfefferte, worauf die geplante Hochzeit platzte. Dana Perez-Giravi war eben tatsächlich ein feuriges Teil. Damit hatte sich sein Besuch am Standesamt Neunkirchen erübrigt, dennoch fuhr er noch einmal hin, um sich mit Maria zum Mittagessen zu verabreden und ihr von seiner Misere zu erzählen.
Er konnte sich noch genau daran erinnern, was sie ihm über das Pizzabrett für zwei Personen hinweg gesagt hatte.
»Du solltest mir dankbar sein, weil ich dich indirekt vor einem großen Fehler bewahrt habe.«
»Nichts weiter als ein blöder Zufall. Vielleicht renkt sich die Sache wieder ein.«
»Es gibt keine Zufälle im Leben, Alex. Das Schicksal hat dich für mich aufgehoben.« Noch bevor er überhaupt bemerkte, worüber sie sprach, hatte sie das Thema gewechselt.
Die heißblütige Dana Perez-Giravi mit dem pechschwarzen Lockenkopf hatte er seitdem nie wieder gesehen - und es kam, wie es kommen musste, beziehungsweise wie es Marias Schicksal für ihn vorgesehen hatte: Sie wurden ein Paar. In dieser Zeit besuchte er sie oft in ihrer Wohnung in Heidenhof und übernachtete bei ihr, doch vermied er es dabei stets, durch Grein zu fahren. Er wollte weder Geschichten aus Grein hören noch sich mit Leuten aus dem Nachbardorf treffen, und es brauchte lange, bis Maria akzeptierte, dass er mit diesem Ort aus seiner Kindheit abgeschlossen hatte. Im Jahr darauf wurde Maria schwanger und sie heirateten, beide 27 Jahre alt. Da er damals am Gendarmerieposten Mödling arbeitete, gab sie ihre Mietwohnung vor Verenas Geburt auf und übersiedelte zu ihm nach Wien in die Rashazygasse. Am 14. September, einen Tag vor der Niederkunft, half sie ihm noch, die leichten Kartons über die Treppe in die Wohnung zu tragen und räumte die Gläser in die Vitrinen.
Eigentlich hätte es eine tolle Beziehung werden können, denn sie passten wunderbar zusammen, lagen nächtelang nebeneinander wach, plauderten und hatten großartigen Sex, doch Maria war vom ersten Tag an in Wien unglücklich. Sie verfiel von Woche zu Woche mehr, wie eine krebskranke Frau, bekam Kopf- und Gliederschmerzen, verlor an Gewicht und litt über Monate hinweg an Schlafentzug, bis
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