Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
Vom Netzwerk:
ins Dorf fahren. Da sie ihre Unterlagen mit nach Hause genommen hatte, würde sie die Berichte bestimmt mitnehmen. Seine eigenen Akten hatte er im Büro liegen lassen und nur die Zeichnung der Reporterin in die Hosentasche gesteckt. Er zog das Papier hervor, faltete es auseinander und betrachtete die Skizze.
    Das flüchtig gezeichnete Mädchen stand mit erhobenen Armen vor ihm, die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Im Hintergrund stand das Eisengestell, undeutlich sah er die Seile, Lederriemen und Flaschenzüge. Die Konstruktion drückte wie ein düsteres Vorzeichen auf die Atmosphäre und beherrschte die Szene. Zweifellos hatte ein kranker Geist den Mechanismus entworfen. Doch wozu diente die Vorrichtung? Warum starb Sabine Krajnik ausgerechnet in der Nähe dieses Gestells? Kein Kind der Krajniks wurde älter als vierzehn. Hatte Sabines Tod etwas mit dem ihrer Geschwister zu tun? Möglicherweise waren Carina und Mathias Krajnik gar nicht an Herzversagen gestorben. Wurde die Todesursache vertuscht? Steckte mehr dahinter als er ahnte, und hatte es am Ende etwas damit zu tun, dass ihre Eltern Cousin und Cousine waren? Seit er sich erinnerte, waren uneheliche und inzestuöse Verbindungen ein brisantes Thema in Grein. Hinter vorgehaltener Hand kursierten unzählige Gerüchte, und sollte nur die Hälfte davon stimmen, war es schlimm genug. In einigen Bauernhöfen wurden mongoloide Kinder seit ihrer Geburt verborgen gehalten, doch oft kam es gar nicht so weit, dass Kinder aus derartigen Verbindungen zur Welt gebracht wurden. In Grein gab es viele Alternativen, nicht jede endete gut.

Schlagartig waren sämtliche Gerüchte aus seiner Kindheit wieder präsent und spukten in seinem Kopf herum. Daniel! Plötzlich war der Name da. Was hatte es mit Daniel auf sich? Was war noch gleich mit ihm geschehen? Der Junge aus dem Ort war ein Jahr jünger gewesen als er. Ein Gesicht entstand in seiner Vorstellung, langsam nahm die Erinnerung Formen an. Als er mit sechs Jahren in die erste Volksschulklasse ging, besuchte Daniel die Vorschule. Er wurde von seinem Onkel gezwungen, in Mädchenkleidern zum Unterricht zu kommen. Täglich bemerkte er die Tränen des Jungen. Die Ortsbewohner sahen zu und schwiegen, auch als ihnen klar wurde, dass Daniels Onkel ihm zu Hause nicht nur Röcke anzog sondern noch andere Dinge antat. Erst nach dem Selbstmord des Buben kam an die Öffentlichkeit, was sich in den letzten sechs Jahren im Keller des Onkels abgespielt hatte.
    Im Nachbarort hatte sich Ähnliches zugetragen. Was war es noch gleich gewesen? Die Jugendlichen erzählten sich, dass ein Mädchen mit fünfzehn Jahren bereits zweimal abgetrieben hatte, obwohl jedem klar war, dass sie mit keinem Freund ging. Leni! Jeder wusste, sie kannte keinen Freund haben, da ihr Vater sie nicht aus dem Haus ließ. Darüber, wer das Mädchen geschwängert hatte, gab es nur Vermutungen.
    Spekulationen kursierten auch darüber, was in jenem Jahr im Sommer passierte, als er zehn wurde. Körner erinnerte sich dumpf daran. Er wusste nur so viel, dass die meisten Frauen in den Sommermonaten bis spät in die Nacht auf den Feldern arbeiteten. Es war eine Katastrophe, wenn eine während der Erntezeit für zwei Tage ausfiel. Die Entbindung einer Schwangeren im Krankenhaus kam nicht in Frage, Hausgeburten standen auf der Tagesordnung, aber nicht alle gingen gut aus. Anna! Sie war so ein Fall. Sie gebar ein totes Kind, angeblich wurde es nie beerdigt. Im Wirtshaus erzählten sich die Bauern, dass sie ein von Füchsen angenagtes rosafarbenes Bündel in der Furche liegen sahen, als sie mit den Traktoren den Acker pflügten.
    Und immer wieder gab es Geschichten über Kinder. Die Tochter des Mechanikers war eine pummelige, unansehnliche Frau. Sie hatte keinen Mann, dennoch gingen bei ihr die Männer ein und aus. Manuela! Sie war so dick, dass die Frauen im Ort gar nicht bemerkten, dass sie schwanger war, nicht einmal sie selbst hatte es bemerkt - erst als sie im Hinterhof ihres Vaters auf dem Plumpsklo saß und schlagartig die Wehen einsetzten. Das Kind wurde nie gefunden, es hatte auch keiner danach gesucht. Jeder im Ort ahnte, was passiert war, doch niemand redete darüber. Alle hielten dicht wie eine Mauer.
    Im Gegensatz zu Manuela war die alte Greißlerin des Ortes beinahe sechzig Jahre, als sie noch einmal schwanger wurde und ein Kind gebar. Liesbeth! Angeblich starb ihr Baby bei der Geburt, doch die alte Liesbeth, über die man sich

Weitere Kostenlose Bücher