Der Judas-Schrein
sie am helllichten Tag halluzinierte und beinahe von einem Auto überfahren worden wäre. Sie wollte unbedingt nach Heidenhof zurück. Um gesund zu werden, brauche sie die Nähe ihrer Eltern und Freunde, und in Wien würde sie vor die Hunde gehen. Der Lärm der Großstadt, die Hektik und der Smog machten sie krank. Er konnte sie verstehen und versuchte, sie zu überreden, gemeinsam nach Baden oder Mödling zu übersiedeln, doch Maria wollte keinen Kompromiss eingehen. Für sie kam nur ihr Heimatort in Frage. Ausgerechnet jene Gegend, die er wie die Pest mied und täglich aus seiner Erinnerung verdrängte. Dort würde er vor die Hunde gehen! In diesem Dilemma musste er eine Entscheidung treffen, die ihm schwerer fiel als alles andere. Hinzu kam, dass Maria herzkrank war und ständig ein Nitropflaster am Körper tragen musste, welches die Gefäße erweiterte. Vielleicht war das auch ein Grund, weshalb er sie mit Verena nach Heidenhof gehen ließ, während er allein in seiner Wiener Wohnung blieb. Er glaubte, es würde sich alles einrenken, tatsächlich aber wurde die Kluft zwischen ihnen größer.
An der Gendarmerieschule Mödling kursierte eine Redensart, welche besagte, dass ein Kriminalbeamter vieles von dem, was er tagtäglich erlebte, mit niemandem teilen konnte, nicht einmal mit seinem Ehepartner. Der Anblick von Wasserleichen, verstümmelten Frauen und aus dem Waldboden gescharrten Toten war schlimm, am entsetzlichsten war jedoch die Untersuchung von ermordeten Kindern. Es war unglaublich, was Verrückte alles mit Minderjährigen anstellten. Und die Redensart stimmte! Man konnte nicht einfach von seinem 24-Stunden-Dienst nach Hause kommen und während des Abendessens erzählen: »Reicht mir mal die Butter. Und ratet mal, Leute, was wir heute in einer stillgelegten Baracke gefunden haben?« Das war der Grund, weshalb sich Polizisten oft zu Ärztinnen oder Krankenschwestern hingezogen fühlten - sie brauchten jemanden zum Reden. In seinem Fall war es die Gerichtsmedizinerin Jana Sabriski, auf die er traf. Sie hatte noch schlimmere Sachen gesehen als er. Jedenfalls verstand sie, worüber er redete, wenn er wieder etwas loswerden musste, denn er war nicht so abgebrüht wie Rolf Philipp, der die unvorstellbaren Schrecken, die sie zu sehen bekamen, in bitterem Sarkasmus ertränkte.
Es dauerte nur noch ein weiteres Jahr, dann hatten Maria und er verschiedene Freundeskreise und einander nichts mehr zu sagen. Sie sprach mit ihren Heidenhofer Freundinnen über Puder, Babyhaut, Grießbrei und die Vor- und Nachteile der unterschiedlichsten Windelmarken, er hingegen scharte am Gendarmerieposten Mödling seinesgleichen um sich. Er spielte Saxophon in einem Mödlinger Jazzkeller, trank mit Basedov um die Wette, spielte mit Philipp Billard und plauderte mit Sabriski über Fingerabdrücke, Stichwunden, Patronenhülsen, Projektilkanäle und die Bestimmung der exakten Todeszeit. Jana wurde zu einer guten Freundin, mit der er von einer Bar zur nächsten zigeunerte, aber erst sechs Jahre später ein Verhältnis einging.
Gespräche über den Vorteil eines besonderen Babypuders und die Bestimmung der exakten Todesursache passten ungefähr so gut zusammen wie ein Glaubensdialog zwischen einer katholischen Nonne und einem Bordellbesitzer. Körner wollte diese Kluft lange Zeit nicht wahrhaben, doch 1990 ließ sich Maria von ihm scheiden. Zu diesem Zeitpunkt lebte sie mit ihrem Baby bereits seit über einem Jahr bei ihren Eltern in Heidenhof. Doktor Weißmann, der Bürgermeister der beiden Orte, verhalf ihr neuerlich zu einer Mietwohnung. Nach der Karenzzeit arbeitete sie dann wieder halbtags am Standesamt in Neunkirchen. In Weißmanns Augen war Körner bestimmt ein schäbiger Verlierer, der nicht nur seine Eltern vergessen, sondern auch Frau und Kind verlassen hatte. Kam das der Wahrheit nicht ziemlich nahe?
Vierzehn Jahre lang hatte Maria das Mädchen großgezogen. So viel er wusste, hatte seine Ex nach der Scheidung nie wieder einen Mann gefunden, und mittlerweile war Verena zu einem flotten, jungen Mädchen gereift, dem es gefiel, sich auf der Straße unter seinen Arm zu haken und ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen. In wenigen Tagen stand ihr vierzehnter Geburtstag ins Haus, ein Tag, auf den er sich schon seit langem freute, doch seit ihm die tote Sabine Krajnik durch den Kopf spukte, wusste er nicht, ob er sich freuen oder vielmehr sorgen sollte. Vierzehn Jahre waren kein gutes Alter, um in einem Ort wie Grein zu bleiben. Zu
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