Der Judas-Schrein
perfekt, um sich zu entspannen.
Er sperrte die Tür auf und trat ein. Ein kühler Wind schlug ihm entgegen. Verdammt! Er sprintete durch den Vorraum. Der Regen trommelte ans angelehnte Küchenfenster. Heute Morgen hatte er vergessen, es zu schließen, Mauer und Fensterbrett waren nass und auf dem Melanboden breitete sich eine Regenlache aus. Er kramte Stofftücher aus den Laden und warf sie auf den Boden. Die Küche war noch von vorgestern mit Geschirr und Kochbüchern angeräumt. Er hatte sich eine Lasagne zubereitet, nicht mit gekauften Teigblättern, sondern mit selbst gezogenem Strudelteig. Kochen war eines seiner wenigen Hobbies, bei dem er vollständig abschalten konnte. Sonst blieben ihm nur noch das Joggen und das Training am Sandsack, das er im letzten Monat allerdings kläglich vernachlässigt hatte. Gereiztheit, ein verspannter Nacken und leichte Kopfschmerzen waren die Folge, aber im Moment konnte er sich zu keinen Übungseinheiten überwinden.
Im Wohnzimmer schaltete er das Fernsehgerät ein, dimmte die Spots in den Glasvitrinen und zündete ein Räucherstäbchen an. Augenblicklich roch es angenehm und beruhigend. Er schlüpfte aus dem nassen Pullover und zog sich das T-Shirt vom Leib. Die Brandwunde, die an seinem Handrücken begann, zog sich über den gesamten Unter- und Oberarm bis zur Schulter. Die rosafarbene, fleckige Haut wirkte ledern. Schmerzen hatte er nicht, doch der Anblick allein genügte, damit es einem das Herz verkrampfte und ziehende Phantomschmerzen hervorrief.
Mit nacktem Oberkörper warf er sich auf die Couch. Er schaltete das Handy aus und schleuderte es neben sich auf ein Kissen. Während der Heimfahrt hatte er Koren über die ersten Ergebnisse im Fall Krajnik informiert, und sie schien einigermaßen zufrieden. In dieser Nacht würde es keine weiteren Gespräche mehr geben.
Er blinzelte zu dem blauen eineinhalb Meter langen Sandsack, der in der Mitte des Wohnzimmers an einer Metallplatte hing und ihn einmal mehr daran erinnerte, seine Tae-Kwon-Do-Übungen zu absolvieren. Er wusste, dass er dringend trainieren musste, doch wollte er es auf morgen verschieben. Heute konnte er sich zu nichts mehr aufraffen.
Der Nachrichtensprecher aus dem Fernsehprogramm verstummte, die Kennmelodie ertönte und die Kamera blendete ins Studio, wo soeben ein Wetterspezialist zu den heftigen Regenfällen befragt wurde.
»Vor einer Woche driftete das herbstliche Tiefdruckgebiet nicht wie gewöhnlich in nordöstliche Richtung ab, sondern zog in leicht ostwärts gebogener Linie über Frankreich hinweg und erreichte das Mittelmeer.« Der Wettermann lächelte in die Kamera. Seine Worte wurden mit einer bunten Grafik auf einer Europakarte ergänzt. Die Stimme aus dem Off sagte: »Das Tief saugte sich wie ein Schwamm mit feuchter Mittelmeerluft voll und wanderte mit prall gefülltem Wasserbauch über Italien nach Norden. Am Freitag erreichte es Mitteleuropa. Sintflutartige Regenfälle entluden sich über weiten Teilen Österreichs. In den nächsten Tagen halten die Niederschläge an.«
Körner hörte nicht länger hin. Vor ihm auf dem Tisch stand eine Schuhschachtel, die er unter der Couch hervorgekramt hatte. Der brüchige Bindfaden war schon seit 27 Jahren nicht mehr geöffnet worden. Körners Herz schlug schneller. Er löste den Faden und im gleichen Moment fiel er an mehreren Stellen auseinander. Die Schachtel roch nach kaltem Rauch und schmuddeligem Papier. Er hob den Deckel und starrte auf einen Stoß blasser Farbfotos mit aufgewellten Rändern, die an den Ecken teilweise verkohlt waren. Die sechziger Jahre, ein Stück Erinnerung.
Seine Mutter war eine hübsche Frau gewesen, hoch gewachsen und schlank, mit der damals modernen hoch gesteckten Frisur, langen, aufgeklebten Wimpern, einer Wickelbluse und einem Minirock. Er kramte wahllos durch die Bilder. Da tauchte ein Foto von seinem Vater auf. Der spindeldürre Ingenieur aus Wien!
»Ach du meine Güte«, murmelte Körner. War das tatsächlich sein Vater? Er sah schrecklich aus. Körner musste grinsen. Sein Vater war hager wie eine Bohnenstange, hatte einen schwarz glänzenden Seitenscheitel und Koteletten bis zum Kinn. Seine Wangen waren blass und eingefallen und er trug eine Brille mit dickem braunen Rahmen, mit der er wie ein Uhu wirkte. Er hatte ein graues Sakko mit Längsstreifen und ein Hemd mit einem lächerlich überdimensionalen Kragen an. Das waren Zeiten gewesen!
Ihn überkam ein merkwürdiges Gefühl. Seine Eltern mussten bei den
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