Der Judas-Schrein
viele Tragödien spielten sich in diesem Lebensabschnitt ab.
Kurzerhand griff er zum Telefon, zog den Apparat zu sich auf die Couch und wählte Marias Nummer. Nach dem siebten Klingelton hob sie ab. »Ja?« Ihre Stimme klang verschlafen.
Plötzlich trocknete sein Gaumen aus. Er blickte auf die Digitalanzeige des Videorekorders: 23.47 Uhr. »Tut mir Leid, ich bin es«, krächzte er.
Langes betretenes Schweigen am anderen Ende. Wahrscheinlich sah sie selbst auf die Uhr.
»Bist du verrückt, um diese Zeit anzurufen!«, nuschelte sie. Er hörte sie auf der Kommode kramen. »Es ist kurz vor Mitternacht!«
»Ich wollte nur mit dir reden.« Im Grunde genommen wusste er nicht einmal, was er ihr sagen sollte.
»Ausgerechnetjetzt?«, fuhr sie ihn an. Eigentlich war Maria ein netter Kerl und er kam gut mit ihr aus, doch wenn man sie reizte, glich sie einer der drei Furien mit dem Schlangenhaar. Kein Wunder! Welche Frau hatte es schon gern, wenn ihr Ex sie um Mitternacht aus dem Bett klingelte?
»Habe ich Vreni geweckt?«
»Sie übernachtet bei einer Freundin. Die Schule ist ausgefallen, wegen des Hochwassers fährt kein Bus. Sie wird morgen bei den Mayerhofers bleiben. Ich hole sie zu Mittag ab.«
»Wie geht es ihr?«
»Müssen wir das jetzt diskutieren?«
»Nein, ich dachte nur …«, druckste er herum.
»Ihr geht es natürlich nicht gut! In Grein wurde ein Mädchen ermordet. Du hast sicher davon gehört. Verena kannte sie. Du kannst dir vorstellen, wie sie sich fühlt! Die beiden führen gemeinsam im Bus nach Neunkirchen, aber das Mädchen besuchte eine andere Schule.« Maria gähnte. »Weshalb hast du gesagt, rufst du an?«
»Ich arbeite an dem Fall«, entfuhr es ihm.
»Oh!« Sie schwieg. »Heißt das, du kommst nach Grein?«
»Ich war heute schon dort.«
»Und wie war es?«
»Es geht.«
»Kommst du morgen auf einen Kaffee vorbei?«
»Ich werde sehen, ob ich Zeit habe. Danke. Entschuldige bitte, dass ich dich geweckt habe. Schlaf gut.«
»Warte noch.« Sie gähnte wieder. »Nächste Woche am Montag wird sie vierzehn. Erhöhst du die Alimente?«
»Nein.«
»Dachte ich mir. Was wirst du ihr schenken?«
Er überlegte. Was schenkte man einer Vierzehnjährigen? Unwillkürlich kam ihm Sabine Krajniks Zimmer in Erinnerung: Pelzstiefel, Rollerblades, Notenhefte, Akustikgitarre, Lippenstift, Haarspangen, Rouge, Wimperntusche, Pandabären und eine zwei Meter lange, ausgestopfte Stoffschlange. War Verena dafür nicht schon zu alt? Doch im Grunde genommen war sie noch immer ein Kind, auch wenn sie am Schulhof heimlich rauchte und sich Piercings und Tattoos stechen ließ. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn, denn drei Kinder aus Verenas Nachbarort waren an ihrem vierzehnten Geburtstag gestorben, zwei davon eines natürlichen Todes, das dritte allerdings nicht. Was für ein Monstrum trieb sich im Ort herum? Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass es auch seine Tochter hätte treffen können. Er durfte gar nicht daran denken, sonst würde er den Verstand verlieren. Am liebsten wollte er Maria sagen, sie solle das Mädchen zu Hause einsperren und vierundzwanzig Stunden am Tag nicht aus den Augen lassen - so lange, bis er den Mörder gefasst hatte.
»Hörst du mir eigentlich zu? Ich fragte, ob du ihr ein neues Handy schenken möchtest?«
»Ein Handy, klar.«
»Ein B-Free von Nokia, wenn es dir nicht zu viel kostet.«
Ein Nokia-Handy, wie es Sabine Krajnik hatte, mit dem sie am Tag vor ihrer Ermordung mit einem Jungen aus dem Ort telefoniert hatte.
»Du klingst ein wenig geistesabwesend. Geht es dir gut?«
»Kennst du Martin Goisser, den Jungen aus dem Nachbarort?«, fragte er unvermittelt.
»Ja, ein intelligenter Bursche, zumindest erzählt man sich das über ihn. Verena kennt ihn allerdings nicht. Warum fragst du, ist er auch tot?«
Er hätte laut aufgelacht, wäre das Thema nicht so ernst gewesen. »Nein, es gab nur einen Mord.«
»Sonst noch was?«
»Nein.«
»Schlaf gut, bis morgen.« Sie legte auf.
Wie gelähmt starrte er auf den Apparat. Sie hatte ihm tatsächlich angeboten, sie zu besuchen und auf einen Kaffee zu bleiben. Warum nicht? Vielleicht würde er dabei auf andere Gedanken kommen. Sobald er über die Brücke an der Trier fuhr und Grein am Gebirge betrat, waren Maria und Wolfgang Heck seine einzigen Rettungsanker. Er wusste, auf die beiden konnte er sich verlassen, und andere Freunde im Ort hatte er nicht. Morgen früh würde er Sonja Berger von ihrer Wohnung mit dem Wagen abholen und mit ihr
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