Der Judas-Schrein
Aufnahmen an die fünfunddreißig Jahre alt gewesen sein. Damals waren sie ihm so erwachsen und imponierend vorgekommen, tatsächlich waren sie aber fünf Jahre jünger als er heute war. Wie seltsam! In seiner Erinnerung würden sie immer älter als er sein, selbst wenn er eines Tages auf die sechzig zuging.
Die beiden standen vor ihrem Einfamilienhaus. Zu jener Zeit war es noch kein verkohltes Gebäude mit abgeblättertem Verputz gewesen, schwarzen Ziegeln und einem in sich zusammengebrochenen Dachgerippe. Es war ein ansehnliches Haus mit Blumenkisten, handgeschnitzten Fensterläden und einem Vorgarten, in dem ein aufblasbarer Swimmingpool stand. Hinter dem linken Dachbodenfenster war sein Zimmer gewesen. Auf dem Fensterbrett stand eine Reihe Teddybären, wie er sich jetzt erinnerte, doch war sie auf dem Foto nicht zu erkennen. Wie hatte sein Zimmer überhaupt ausgesehen? Ein sechs Quadratmeter großer Raum, mit Dachschrägen und einem Dachflächenfenster. Blassgrüne Vorhänge, erbsengrüner Teppichboden. Die Tapete zeigte ein üppiges Blumenmuster, das ihn vor dem Einschlafen im Dunkeln an dichte Wolkenfelder erinnerte. Gott, war diese Zeit lange her. Eigentlich war seine Kindheit gar nicht so schlimm gewesen, wie er immer gedacht hatte. Waren ihm ausschließlich die bösen Erlebnisse in Erinnerung geblieben?
Er kramte weiter und hielt plötzlich ein Foto von sich selbst in der Hand. Unwillkürlich musste er lachen. Anscheinend war die Aufnahme in den Sommerferien gemacht worden. Er war an die zehn Jahre alt, hatte schulterlanges Haar und stand mit Shorts und einem T-Shirt neben seinem High Riser, einem Fahrrad mit Dreigang-Knüppelschaltung, einem Fuchsschwanz an der Rückenlehne und Spielkarten auf den Speichen, die beim Fahren wie ein Motor knatterten. Er war braungebrannt, hatte dünne Arme, einen schmächtigen Rumpf und kantige Knie. In der Schule hatten sie ihn wegen seiner Revolverknie oft verspottet, doch Wolfgang Heck hatte ihn verteidigt. Gemeinsam hatten sie mehr als bloß eine Pausenschlägerei hinter sich gebracht. Ob sich Heck noch daran erinnerte? Wahrscheinlich hatte er gerade andere Sorgen und stapelte Sandsäcke auf die Deichkrone, für den Fall, dass die Trier über die Ufer trat.
Da fiel ihm ein verbranntes Foto in die Hände, das ihn mit ein paar anderen Jungs am Ufer der Trier zeigte, wie sie im kniehohen Gras lagen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließen. Die andere Hälfte des Fotos war verkohlt. Die Asche bröselte vom Rand und zerrieb sich zwischen den Fingern. Mit einem Mal roch er das Feuer, hörte das Knistern und erinnerte sich, wie die Flammen in der Küche gewütet hatten. Die Erinnerung verkrampfte seine Muskeln, seine Hände waren schweißgebadet. Der verdammte Brand, der das Haus in Schutt und Asche gelegt hatte! An einem einzigen Tag hatte sich sein Leben um hundertachtzig Grad gewendet. Er war ein knapp vierzehnjährigerjunge gewesen. Damals hatte er noch nicht gewusst, dass das Muskeleiweiß eines Menschen, der bei lebendigem Leib verbrennt, unter der Hitze gerinnt, wodurch sich die Gelenke beugen und strecken. Du hörst es knistern und knacken, hörst das Prasseln der Haare und glaubst, der Mensch sei tot, sitzend auf der Küchenbank verbrannt. Doch ist es nicht so. Die Hitze greift nach dir, du willst aus dem Haus rennen und plötzlich bewegt sich der Körper in den Flammen. Stocksteif stehst du vor dem Feuer, siehst die Arme und Beine in den Flammen zucken und denkst, deine Mutter lebt noch. Du willst ihr helfen, rufst verzweifelt nach ihr und da richtet sich der Oberkörper auf! Sie hört dich! Plötzlich ragt eine Hand aus dem Feuer. Der Arm zuckt herum, das Fleisch löst sich von den Knochen und tropft zu Boden. Es sieht aus, als tanze deine Mutter in den Flammen. Weshalb schreit sie nicht? Warum bleibt sie sitzen? Warum lässt sie dich allein?
»Scheiße!« Körner zerknüllte das Foto, wischte sich die Hand an der Hose ab und rieb die Asche in den Stoff. Eilig legte er den Deckel auf den Schuhkarton und schob die Schachtel unter das Sofa. Für eine Vergangenheitsbewältigung war jetzt der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Sie würde warten müssen, bis er den Fall in Grein gelöst hatte. Vielleicht würde er mit dem Grab seiner Eltern beginnen. Er lehnte sich zurück und starrte durch das Fernsehgerät hindurch, ohne wahrzunehmen, was für ein Programm gerade lief. Die Fotos ließen sich bequem unter der Couch verbergen, die Gedanken auch?
Da waren sie
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