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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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wir müssen nur noch die Puzzleteile korrekt zusammensetzen. Sie werden sehen, morgen sind wir der Lösung des Falls einen Schritt näher.«
    Er lachte bitter. »Hoffen wir es.«
    Berger klemmte sich die Akten unter den Arm und ging zur Tür. Körner griff nach Sakko und Mantel und folgte ihr. Vor der Tür standen sie sich gegenüber. Er knipste das Licht aus, und als er die Tür öffnete, fiel das schwache Neonlicht vom Gang ins Zimmer.
    »Was machen Sie heute Abend? Wir könnten …«
    »Ich muss mich gründlich ausschlafen.« Sie blickte zu Boden. »Außerdem wartet mein Freund zu Hause auf mich.«
    »Verstehe, alles klar.«
    Sie verließen das Büro und gingen schweigend nebeneinander durch die Korridore des Landesgendarmeriekommandos.
    »Bei dem Gedanken, morgen wieder in den Ort zu fahren, stellen sich mir die Nackenhaare auf.«
    Die Aussage hätte von ihm stammen können. Verwirrt sah er sie an. Wollte sie ihn auf die Schippe nehmen? Doch ihr Gesichtsausdruck blieb ernst.
    »Als Sie nach Wien fuhren und ich allein in Grein zurückblieb, spürte ich ein merkwürdiges Gefühl im Bauch, das ich nicht beschreiben kann. Erst als ich mit dem Gendarmeriebeamten auf der Autobahn Richtung Wien unterwegs war, auf der Südost-Tangente im üblichen Verkehrsstau steckte, die Palmers- und MacDonald’s-Werbungen vor Augen hatte, den Millenniumstower mit den Neonreklamen, das Autohaus Frey, den Gasometer und die vertrauten Ampeln, Straßen und Kaufhäuser sah, bemerkte ich, wie fremdartig und ungewöhnlich anders es in Grein zuging. Es war, als würde ich aus einem beklemmenden Traum erwachen, eine andere Welt verlassen und in die helle Realität zurückkehren.« Ihre Stimme wurde immer leiser, bis sie schließlich verstummte.
    Die helle Realität] Er wusste genau, was sie meinte.
    »Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte sie gefasst.
    »Schon in Ordnung.« Ihm war es ähnlich ergangen, und er hätte es nicht treffender formulieren können. Dennoch fand er es merkwürdig, dass nicht nur er so empfand, sondern es noch jemand anderen gab, der ebenso fühlte. Aber er sagte ihr das nicht, es hätte sie unnötig beunruhigt.
    Sie traten ins Freie.
    »Gute Nacht.« Er ging zu seinem Wagen, der unter der Laterne stand.
     
    8. Kapitel
     
    Vor zwei Jahren hatte die Wiener Stadtgemeinde die Altbausanierung zum letzten Mal abgelehnt, dennoch kam das Haus in der Rashazygasse für einen Abriss nicht in Frage, da es das Bundesdenkmalamt unter Denkmalschutz gestellt hatte. Angeblich befanden sich wertvolle Stuckarbeiten im Durchgang zum Hof und in den Gängen. Alexander Körner lebte seit über fünfzehn Jahren in diesem Wohnhaus und hatte sie bisher nicht entdeckt, und so würde er weiterhin in jenem Wiener Kuriosum leben, das zu alt war, um es abzureißen - und zu neu, um es zu renovieren.
    Er stieg die Wendeltreppe in den fünften Stock empor. Wie üblich roch es im Treppenhaus nach Kacheln, feuchtem Holz, dem schmiedeeisernen Stiegengeländer und dem Kalk, der sich an Tagen wie diesem mit Regenwasser voll saugte und Stück für Stück von der Wand fiel. Ab und zu mischte sich der Geruch der defekten Toilette vom Gang hinzu, die immer noch von jenen Bewohnern benutzt wurde, die sich keinen Abfluss in die Wohnung hatten legen lassen, und manchmal verirrte sich vom Dachgebälk eine Taube in das Treppenhaus, die in einem Winkel verendete und danach wochenlang vom Hausmeister nicht entfernt wurde. Im Sommer stank es trotz geöffneter Fenster bestialisch. Körner fragte sich, ob in dem Gebäude überhaupt noch ein Hausmeister lebte? Er selbst hatte nicht allzu viel Kontakt zu seinen Nachbarn, und seit im Haus hinter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde, dass er bei der Kriminalpolizei arbeitete, vermieden die Bewohner auch den Umgang mit ihm, als habe er eine ansteckende Krankheit. Ihm konnte das nur recht sein.
    Eigentlich hätte er schon längst in das Appartement eines Neubaus übersiedeln können, doch hier fühlte er sich wohl, und so hatte er innerhalb der letzten Jahre ein Vermögen in die Wohnung gesteckt und sie Raum für Raum stilvoll eingerichtet. Er hätte kein idealeres Quartier finden können. Der Blick in den Park war ihm genauso wichtig wie die angenehme Ruhe im Haus, in dem mit seiner Ausnahme ausschließlich Pensionäre, Witwen und gebrechliche Menschen lebten. Kein Gebrüll und Getrampel im Treppenhaus schreckte ihn je aus dem Schlaf, keine hämmernde Stereoanlage, keine Jugendlichen, die im Hof kreischten. Es war geradezu

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