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Der Judas-Schrein

Der Judas-Schrein

Titel: Der Judas-Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Goisser stand wie angewurzelt auf der Türschwelle, weiß im Gesicht, und begann am gesamten Körper zu zittern. Plötzlich wandte er sich ab und erbrach sich auf die Holzdielen. Es roch nach Magensäure und Kaffee.
    »Verdammte Scheiße!« Goisser wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Seit Sie im Ort herumschnüffeln, passieren solche Dinge!«
    »Kommen Sie!« Berger nahm ihn am Arm und wollte ihn die Treppen hinunterführen, doch riss er sich los.
    »Wir müssen ihn runterschneiden. Helfen Sie mir!«
    »Nein«, widersprach Körner. »In einer Stunde kommt das Spurenteam.«
    »Himmel! Schauen Sie sich das an! Wollen Sie ihn so hängen lassen?«
    »Sie müssen warten, bis …«
    »Einen Dreck werde ich!«
    Körner versuchte, ruhig zu bleiben. »Was ich Ihnen jetzt sage ist vertraulich: Wir haben Grund zur Annahme, dass …«
    »Ich scheiß drauf, was Sie mir zu sagen haben! Ich schneide meinen Bruder von da oben runter!«
    Körner packte Goisser an den Armen und drückte ihn gegen den Türstock. »Er wurde ermordet!«
    Augenblicklich verflog Goissers Widerstand. Seine Schultern sackten herab und er starrte Körner ungläubig an. Ein ekelhafter Gestank von Magensäure schlug Körner entgegen.
    »Kommen Sie.« Berger nahm Goisser an der Hand und zog ihn sanft zu Treppe. Diesmal ließ er sich führen.
     
    Sie saßen im Wohnzimmer auf der Couch. Die Einrichtung stammte aus den siebziger Jahren. Von der Stehlampe hingen Stoffquasten, die Pendeluhr tickte dumpf und an den Wänden hingen Ölgemälde in vergoldeten Bilderrahmen. Eine Mahagonischrankwand, welche die gesamte Raumlänge einnahm und ein dunkler Perserteppich legten die dazu passende drückende Schwere auf das Zimmer. Hermann Goisser saß zusammengekauert auf der Couch. Seine Hände zitterten, sein Haar klebte ihm in der Stirn. Er wischte es mit einer fahrigen Bewegung fort. Da bemerkte Körner, dass Goissers linke Hand verkümmert war. Drei Finger waren unnatürlich verdreht und wie bei einer Sehnenverkürzung zum Handballen hin gekrümmt. Körner vermutete einen Arbeitsunfall, möglicherweise ein Stromschlag.
    »Wann ist Martins Geburtstag?«, fragte Körner einer plötzlichen Eingebung folgend.
    Goisser antwortete wie ferngesteuert. »Anfang Oktober wird er vierzehn.«
    Wäre er vierzehn geworden. Doch Körner sagte nichts. Der Mord an Martin Goisser passte demnach nicht in das Bild der Jugendlichen, die alle an ihrem vierzehnten Geburtstag starben.
    »Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?«, fragte Körner weiter.
    »Schon seit Tagen nicht mehr.« Goisser starrte zur Decke, als könnte er seinen Bruder durch den Plafond sehen. Seine Unterlippe bebte. »Meist kam er erst am Abend heim. Er trieb sich nach Schulschluss in Neunkirchen herum, oder hockte im Lesesaal der Gemeinde. Ich weiß nicht, was er dort trieb. Mag sein, dass er in Büchern oder Zeitschriften stöberte. Vielleicht brauchte er die für die Schule. Wir können nicht alles kaufen, was er für den Unterricht benötigt. Seit Vaters Tod kommen wir mit dem Elektrogeschäft halbwegs über die Runden. Falls das Hochwasser den Ort überflutet, gibt es wieder mehr Arbeit.«
    »Wo ist Ihre Mutter?«, fragte Körner.
    »In Harbach, eine Woche auf Kur.«
    Eine Woche? Körner runzelte die Stirn. Für gewöhnlich dauerte ein Reha-Aufenthalt drei Wochen, doch unterbrach er Goisser nicht. Sie erfuhren, dass er seit Tagen um sechs Uhr früh außer Haus ging, um auf der Baustelle am Gemeindeamt neue Telefonleitungen durch sämtliche Büros zu ziehen.
    Ein Blick in die Küche und in den Geschirrspüler überzeugte die Ermittler, dass sich Martin heute Morgen kein Frühstück zubereitet hatte. Körner war keineswegs überrascht. Die Leiche hing seit mindestens zehn Stunden am Deckenbalken. Wenn Goissers Aussage stimmte, hatte er ein stichfestes Alibi: Am Abend des Vortags hatte der Elektriker im Braunen Fünfender mit Wolfgang Heck und einigen Feuerwehrleuten zusammengesessen. Die Männer waren erschöpft gewesen und hatten eine Pause eingelegt. Heck gab eine Runde Bier aus und sie blieben länger sitzen als geplant. Gegen Mitternacht rückte die Truppe wieder aus, um die übliche Arbeit aufzunehmen: Kontrollgänge auf der Deichkrone, Sandsäcke inspizieren, mit Scheinwerfern den Fluss ausleuchten, Treibgut rausfischen und den Brückenpfeiler mit dem Feuerwehrwagen stützen. Als Goisser heimkehrte, bemerkte er nichts Auffälliges, keine Geräusche oder ungewöhnlichen Telefonanrufe. Im Prinzip

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