Der Judas-Schrein
zuckte mit den Achseln. »Um drei Uhr nachmittags hält der Schulbus im Ort, kann aber sein, dass Martin erst am Abend auftaucht. Der Junge ist ständig unterwegs.« Er klimperte mit dem Schlüsselbund und öffnete die Tür.
»Dürfen wir uns in seinem Zimmer umsehen?«, fragte Körner.
Goisser musterte ihn streng. »Hat er wieder etwas ausgefressen?«
»Wieder? Was frisst er denn so aus?«, konterte Körner.
»Nein«, griff Berger hastig ein. »Ihr Bruder hat nichts mit der Sache zu tun. Sie wissen bestimmt, dass wir im Mordfall Sabine Krajnik ermitteln. Martin kannte das Mädchen, wir wollten uns bloß in seinem Zimmer nach Hinweisen umsehen. Das ist alles.« Sie lächelte charmant.
Körner gewann den Eindruck, dass unbedingt sie das Gespräch führen wollte. Gefiel ihr der Bursche oder wollte sie lediglich vermeiden, dass er wieder ausrastete und die Befragung in einem Streit endete?
Goisser zwinkerte Berger zu. »Von mir aus. Das Zimmer ist oben, sehen Sie sich um, aber rühren Sie nichts an! Verraten Sie Martin nicht, dass ich Sie reingelassen habe. Ich hole mir inzwischen Ersatzteile aus der Werkstatt, dann muss ich los. Sie haben fünf Minuten Zeit.«
Er trat zur Seite und ließ sie herein. Nachdem er im Kellerabgang verschwunden war, sahen sich Körner und Berger im Haus um. Die Wände waren mit Nussholz verkleidet, im Vorraum standen verschnörkelte Kommoden und die gestickten Bilder zeigten Wald- und Blumenmotive. Im Haus roch es eigentümlich nach altem Teppich, Holzspänen und abgestandener Luft. Ein frischer Innenanstrich und ein gekipptes Fenster würden dem Haus nicht schaden.
Die Bodendielen knarrten unter Körners Sohlen. Eine steile Holztreppe führte ins obere Stockwerk. Er ging voraus.
»Es ist nicht richtig, was wir hier tun«, zischte ihm Berger zu. »Wir sollten uns hier ohne Durchsuchungsbefehl nicht umsehen.«
»Meine Güte! Martins Bruder hat es uns erlaubt. Sie haben uns mit Ihrer subtilen diplomatischen Art Zutritt zum Haus verschafft.«
»Ich wollte bloß verhindern, dass Sie wieder Ärger provozieren. Sie und ich kommen mir in diesem Ort mittlerweile wie feindliche Invasoren vor. Früher hätte man Leute wie uns gesteinigt.«
»Wir sind aber die Guten, die Steiniger sind die Bösen.«
Sie drängte sich an ihm vorbei, spazierte in den Gang bis zur letzten Tür, an der ein Poster von Albert Einstein hing.
»Haben Sie es eilig?«, fragte er.
»Ich möchte vermeiden, dass Sie die Tür eintreten.«
Himmel, war sie heute zynisch. Lag es am psychischen Druck, dem sie in Grein standhalten musste, oder taute sie endlich auf und legte die stocksteife Psychotante ab, als die Rolf Philipp sie bezeichnete?
Sie drückte die Klinke nieder, trat in den Türrahmen und erstarrte.
»Was ist?« Körner stürzte zu Berger die Treppe hinauf.
Sie war weiß im Gesicht. »Der Junge ist gar nicht weggegangen.«
Körner stand hinter ihr und starrte über ihre Schulter in den Raum. Das Zimmer war groß genug, damit sich ein Jugendlicher darin sein eigenes Reich schaffen konnte. Es war Platz für einen Schreibtisch mit PC, Lautsprecher und Drucker, einen Kleiderschrank, ein zerwühltes Bett, Schulordner, die wahllos auf dem Boden standen, und Bücherregale, die sich über die gesamte Wand ausbreiteten. Durch das große Fenster und den schrägen Holzplafond, der zu einem Spitzdach zusammenlief, wirkte das Zimmer wie eine Galerie. Ein Deckenbalken lief quer durch den Raum, und an einem Strick baumelte Martin Goisser. Sein Gesicht war blau, der Mund stand offen und die Augen starrten ins Nichts. Im Luftzug der geöffneten Tür begann sich die Leiche zu drehen. Das Seil knarrte am Balken und feiner Staub rieselte auf die Schulter des Jungen.
»Wir haben fünf Minuten Zeit«, flüsterte Körner. Er schlüpfte aus den Schuhen und ging in den Socken über den Teppichboden zur Leiche. Martin trug eine weite graue Jogginghose und ein T-Shirt, das ihm aus dem Hosenbund hing. Er schätzte den Jungen auf vierzehn Jahre. Die nackten Füße waren genauso weiß wie die Arme. Unter seinen Beinen lag ein umgekippter Stuhl.
Körner zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und hob damit die Hand des Jungen. Feingliedrige Finger, die noch keine harte Arbeit gewöhnt waren, sondern Bücher umblätterten und auf PC-Tastaturen tippten. Danach blickte er nach oben und betrachtete das Seil, das zweimal um den Balken geschlungen war und in einem dicken Knoten endete.
»Wonach suchen Sie?«, krächzte Berger, die
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