Der Jünger
hat einfach ein hartes Leben.”
Jay musterte ihr Veilchen. “Geh nach Hause.”
“Ich bin hier zu Hause”, erwiderte Phyl.
“Nein, das meinte ich nicht. Geh dahin zurück, wo du herkommst.”
Diesmal war sie diejenige, die ihm ins Gesicht lachte. “Damit der Macker von meiner Mutter mich wieder umsonst ficken kann? Wohl eher nicht. Hier werde ich wenigstens dafür bezahlt.” Sie schlug die Tür zu und rannte durch den Regen auf das Apartmenthaus zu.
Jay saß einen Moment einfach da und lauschte dem Regen, der gegen seine Windschutzscheibe prasselte. Da spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz hinter dem rechten Auge. Er kam so unerwartet, dass Jay reflexartig die Hand vor das Gesicht schlug, als hätte ihn ein Schuss getroffen. Er beugte sich über das Lenkrad und rang nach Luft. Langsam ließ der Schmerz nach, und er konnte sich wieder aufrichten. Als er dann seine Umgebung nur ganz verschwommen sah, fürchtete er zuerst, blind zu werden. Aber schnell wurde ihm klar, dass ihm der Regen lediglich die Sicht erschwerte.
Eine tiefe Traurigkeit breitete sich in ihm aus. Es hatte also begonnen. Genau davor hatten ihn die Ärzte gewarnt. Panik überfiel ihn. Er hatte gehofft, mehr Zeit zu haben. Er war noch nicht bereit.
Doch was hieß das schon? Er konnte vieles tun, aber über das Schicksal hatte er keine Macht. Er musste seinen Weg also schneller zurücklegen, schneller als geplant.
Nachdem er in seiner Einzimmerwohnung angekommen war, wurde er von einer starken inneren Unruhe erfasst. Alte Erinnerungen an die früheren Symptome seiner Krankheit drängten sich wieder in sein Bewusstsein. Bisher schienen die Beschwerden nicht so stark zu sein. Aber jetzt fühlte er sich aus dem Gleichgewicht gebracht. Was sollte aus ihm werden, wenn er nicht mehr lange genug lebte, um die Sünden seines ersten Lebens wieder gutzumachen? Er hatte seinen Mitmenschen gepredigt und versucht, ihnen Gutes zu tun, doch jetzt fürchtete er, dass das nicht ausreichen würde. Die Panik, die ihn bei diesem Gedanken überfiel, machte ihn schwach. Jay zitterte. Er wollte nicht in die Hölle.
“Gott, hilf mir. Was soll ich tun?”
Die Antwort kam als Gedanke, stumm und leise, aber nachdrücklich.
Lebe so, wie ich gelebt habe.
2. KAPITEL
J anuary machte sich für ein Live-Interview bereit. Am Ort des Geschehens wollte sie mit dem Mann sprechen, der erst vor einer Stunde eine Frau und ein Kind aus dem Potomac River gerettet hatte. Sie blickte auf ihre Uhr. In weniger als drei Minuten sollten sie auf Sendung sein, doch der Held des Tages war immer noch dabei, sich zu übergeben.
“January, zwei Minuten und etwas”, sagte Hank, der Kameramann.
Ratlos betrachtete sie den Mann, der sich in die Büsche erbrach. “Wie geht es uns denn?”, erkundigte sie sich.
Der Mann erschauerte, dann drehte er sich um. “Tut mir leid, Miss DeLena. Das geht gleich vorbei, versprochen.”
“In zwei Minuten sind wir auf Sendung. Kann ich Ihnen irgendwas besorgen, um Ihren Magen zu beruhigen?”
Er zuckte mit den Schultern und wischte sich mit einer zittrigen Hand über das Gesicht. “Manchmal hilft was Salziges.”
January lächelte, warf Hank ihr Mikrofon zu und rannte zum Übertragungswagen, um ihre Handtasche zu holen. Kurz darauf kam sie mit einem Päckchen Erdnüssen zurück. Sie riss die Packung auf und schüttete dem Mann zwei Nüsse auf die Handfläche.
“Ich weiß nicht, ob ich etwas essen würde, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Vielleicht lutschen Sie einfach das Salz ab und spucken die Nüsse wieder aus?”, schlug sie vor.
“Ja, gut.” Zitternd schob er sich die Nüsse in den Mund.
Zu Januarys Erleichterung zeigte das Salz bald seine Wirkung. Als die Übertragung begann, stand der Held des Tages aufrecht neben ihr und berichtete tapfer von den Ereignissen.
“Gute Arbeit”, lobte Hank sie, nachdem das Interview beendet war.
“Danke, das Gleiche gilt für dich.”
“Wahnsinn, dass der da in den Fluss reingesprungen ist.”
“Ja, und das gleich zweimal. Erst das Kind, dann die Mutter gerettet.”
Hank nickte. “Und dann behauptet er, er könnte nicht schwimmen.”
January schwang sich in den Sitz und ließ die Tasche vor sich auf den Boden fallen.
“Angst hat eine komische Wirkung auf manche Menschen”, fügte er hinzu.
January lehnte sich zurück und ließ die Gedanken schweifen. “Und manchmal machen die Leute aus Angst ganz seltsame Dinge”, murmelte sie. “Lass uns losfahren,
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