Der Jüngling
Zurückgezogenheit.
V
Kaum hatte mich Wassin gelobt, da ergriff mich auch ein unwiderstehliches Verlangen zu reden.
»Meiner Ansicht nach ist ein jeder berechtigt, seine Gefühle zu haben ... wenn sie seiner Überzeugung entsprechen ... und es darf ihm niemand deswegen Vorwürfe machen«, sagte ich, zu Wassin gewandt. Ich sprach zwar recht gewandt, aber als wäre nicht ich der Redende, als bewegte sich in meinem Munde eine fremde Zunge.
»So-o-o?« fiel sogleich mit ironischer Dehnung jene selbe Stimme ein, die vorher den redenden Dergatschew unterbrochen und Krafft zugerufen hatte, daß er ein Deutscher sei. Da ich den Betreffenden für ein ganz wertloses Subjekt hielt, wandte ich mich an den Lehrer, als wäre er der Zwischenrufer gewesen.
»Es ist mein Prinzip, über niemand den Stab zu brechen«, sagte ich zitternd; ich wußte schon vorher, daß ich jetzt in Fahrt kommen würde.
»Warum denn so geheimnisvoll?« ließ sich wieder die Stimme des wertlosen Subjekts vernehmen.
»Jeder hat seine Idee«, fuhr ich fort, indem ich dem Lehrer starr ins Gesicht blickte, der seinerseits schwieg und mich lächelnd ansah.
»Was haben Sie denn für eine?« rief das wertlose Subjekt.
»Das auseinanderzusetzen, würde zu lange dauern ... Ein Teil meiner Idee besteht eben darin, daß ich in Ruhe gelassen sein möchte. Solange ich noch zwei Rubel besitze, will ich mein eigener Herr sein und von niemand abhängen(beunruhigen Sie sich nicht, ich kenne Ihre Erwiderung) und nichts tun, nicht einmal für jene große künftige Menschheit, für die zu arbeiten Herr Krafft aufgefordert worden ist. Die persönliche Freiheit, das heißt meine eigene, geht mir über alles, und weiter will ich von nichts wissen.«
Mein Fehler war, daß ich hitzig wurde.
»Also predigen Sie die Ruhe einer satten Kuh als Ideal?«
»Meinetwegen. Eine Kuh tut niemandem etwas zuleide. Ich bin niemandem etwas schuldig; ich bezahle der menschlichen Gesellschaft Geld in Form von Steuern, damit ich nicht bestohlen, durchgeprügelt oder totgeschlagen werde; aber weiter hat niemand etwas von mir zu verlangen. Vielleicht habe ich persönlich auch noch andere Ideen und will der Menschheit dienen und werde es tun und werde es vielleicht in zehnmal so großem Maße tun als alle diese Prediger, aber ich will nicht, daß das jemand von mir fordert , mich dazu zu zwingen versucht wie Herrn Krafft; ich will meine volle Freiheit haben, auch wenn ich keinen Finger rühre. Aber herumzulaufen und sich allen Leuten aus Menschenliebe an den Hals zu hängen und in Rührungstränen zu zerfließen, das ist nur Modesache. Ja, warum soll ich denn durchaus meinen Nächsten lieben oder Ihre zukünftige Menschheit, die ich nie zu sehen bekommen werde, die von mir nichts wissen wird und die ihrerseits, ohne eine Spur oder eine Erinnerung von sich zu hinterlassen, vermodern wird (auf die Zeit kommt es dabei nicht an), sobald die Erde sich in einen eiskalten Stein verwandelt haben und im luftleeren Raum mit der unendlichen Vielzahl ebensolcher eiskalter Steine umherfliegen wird, also das Sinnloseste, was man sich überhaupt vorstellen kann! Da haben Sie Ihre Lehre! Sagen Sie doch, warum soll ich denn unbedingt edel sein, noch dazu, wenn alles doch nur eine kurze Spanne Zeit dauert?«
»So was!« rief die Stimme. Ich hatte das alles nervös und zornig hervorgestoßen und gleichsam alle Stricke, die mich hielten, zerrissen. Ich wußte, daß ich in eine Grube fallen würde, aber ich stürmte vorwärts aus Furcht vor Entgegnungen. Ich fühlte nur zu gut, daß ich meine Gedanken unzusammenhängend wie durch ein Sieb herausschüttete und vom Hundertsten in das Tausendste kam, aber ich hattees sehr eilig: ich wollte sie überzeugen und besiegen. Das war für mich von der größten Wichtigkeit! Drei Jahre lang hatte ich mich darauf vorbereitet! Aber merkwürdig: sie waren auf einmal still geworden, redeten kein Wort, sondern hörten alle nur zu. Ich sprach, immer zu dem Lehrer gewandt, weiter.
»Ja, gewiß. Ein besonders kluger Mann hat unter anderm gesagt, nichts sei schwieriger als die Beantwortung der Frage, warum man denn durchaus ein edler Mensch sein müsse. Sehen Sie, es gibt drei Arten von Schuften auf der Welt: die naiven Schufte, das heißt diejenigen, die davon überzeugt sind, daß ihre Schuftigkeit der höchste Edelmut ist; die verschämten Schufte, das heißt solche, die sich ihrer eigenen Schuftigkeit schämen, aber dabei fest entschlossen sind, bei ihr bis zum Ende zu
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