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Der Jüngling

Der Jüngling

Titel: Der Jüngling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fëdor Michajlovi Dostoevskij
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Idee, die ich auch ohne mathematisch zwingende Beweise zu glauben bereit bin ...«
    »Warte einen Augenblick, Tichomirow!« unterbrach ihn Dergatschew laut. »Die soeben eingetretenen Herren können das nicht verstehen. Sehen Sie, dies hier«, wandte er sich plötzlich an mich allein (und ich muß gestehen, wenn er beabsichtigte, mir als einem Neuling auf den Zahn zu fühlen oder mich zum Sprechen zu bringen, so war das ein sehr geschicktes Verfahren; ich merkte das sofort und bereitete mich vor), »sehen Sie, dies hier ist Herr Krafft, der uns allen durch die Festigkeit seines Charakters und seiner Ansichten schon hinreichend bekannt ist. Er ist infolge einer sehr gewöhnlichen Tatsache zu einer sehr ungewöhnlichen Schlußfolgerung gelangt, durch die er uns alle in Erstaunen versetzt hat. Sein Resultat ist, daß das russische Volk ein Volk zweiten Ranges sei ...«
    »Dritten Ranges«, rief jemand.
    »... zweiten Ranges sei, das dazu prädestiniert sei, als Material für einen edleren Volksstamm zu dienen, nicht aber eine eigene selbständige Rolle in den Geschicken der Menschheit zu spielen. Auf Grund dieses seines vielleicht richtigen Schlusses ist Herr Krafft zu der weiteren Folgerung gelangt, daß durch diese Idee jede fernere Tätigkeit eines jeden Russen gelähmt werden müsse, daß alle sozusagen die Arme müßten sinken lassen und ...«
    »Erlaube mal, Dergatschew, das kann man nicht so behaupten«, fiel Tichomirow wieder ungeduldig ein, und Dergatschew überließ ihm sofort das Wort. »In Anbetracht dessen, daß Krafft ernste Studien gemacht, seine Schlüsse, denen er eine mathematische Sicherheit zuerkennt, auf physiologischen Tatsachen aufgebaut und vielleicht zwei Jahre auf seine Idee verwandt hat (die ich in aller Seelenruhe a priori annehmen würde), in Anbetracht dessen, das heißt in Anbetracht der ernsten seelischen Erregung Kraffts, stellt sich diese Sache geradezu als ein Phänomen dar. Aus alledem resultiert eine Frage, die Krafft nicht verstehen kann, und eben mit dieser müssen wir uns beschäftigen, das heißt mit Kraffts Verständnislosigkeit, denn das ist das Phänomen.Es muß entschieden werden, ob dieses Phänomen als Einzelfall in die Klinik gehört oder eine Eigenschaft ist, die sich bei anderen auf normalem Wege wiederholen kann; das ist interessant im Hinblick auf die gemeinsame Sache. Kraffts Ansicht über Rußland halte ich für richtig und möchte sogar sagen, daß ich mich darüber freue; wenn sich alle diese Ansicht zu eigen machten, so würde sie vielen die Hände losbinden und sie von patriotischen Vorurteilen befreien ...«
    »Ich habe mich dabei nicht von Patriotismus leiten lassen«, sagte Krafft wie mit Überwindung. Alle diese Debatten schienen ihm unangenehm zu sein.
    »Patriotismus oder nicht, das kann man beiseite lassen«, bemerkte der sehr schweigsame Wassin.
    »Aber sagen Sie nur, inwiefern könnte denn Kraffts Schlußfolgerung den Eifer für die Sache der ganzen Menschheit abschwächen?« schrie der Lehrer (er war der einzige, welcher schrie; alle übrigen sprachen leise). »Mag auch Rußland zu einer Stellung zweiten Ranges verurteilt sein; man kann doch auch noch andere Arbeit leisten als nur für Rußland. Und außerdem, wie kann denn Krafft ein Patriot sein, wenn er nicht mehr an Rußland glaubt?«
    »Dafür ist er eben ein Deutscher«, ließ sich wieder eine Stimme vernehmen.
    »Ich bin Russe«, sagte Krafft.
    »Das ist eine Frage, die nicht in direkter Beziehung zur Sache steht«, bemerkte Dergatschew auf den Zwischenruf.
    »Treten Sie aus der Enge Ihrer Idee heraus«, fuhr Tichomirow, ohne auf etwas hinzuhören, fort. »Wenn Rußland nur Material für edlere Volksstämme ist, warum soll es dann nicht als solches Material dienen? Das ist doch eine ganz achtbare Rolle. Warum soll man sich im Hinblick auf die Erweiterung der Aufgaben nicht mit dieser Idee zufriedengeben? Die Menschheit steht am Vorabend ihrer Wiedergeburt, die bereits begonnen hat. Nur Blinde können die uns bevorstehende Aufgabe ableugnen. Laßt Rußland fahren, wenn ihr an seine Zukunft nicht mehr glaubt, und arbeitet für ein zukünftiges, für ein noch unbekanntes Volk, das aber aus der ganzen Menschheit ohne Unterschiedder Volksstämme bestehen wird. Auch ohne das würde Rußland irgendwann sterben; die Völker, selbst die begabtesten, leben nur anderthalb, höchstens zwei Jahrtausende; ist es da nicht ganz gleich, ob es zweitausend oder zweihundert Jahre sind? Die Römer haben nicht einmal

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