Der Junge aus dem Meer - Roman
1873 in Savannah, Georgia, geboren und starb 1913, kurz vor Veröffentlichung dieser Ausgabe. Er war Professor der Anthropologie und widmete sein Leben den volkskundlichen Erforschungen von Selkie Island.
Okay. Also nicht Matrosenmütze.
Mit dem geöffneten Buch trat ich rückwärts auf den Schreibtisch zu. Ich breitete mein Handtuch über den Stuhl mit der hohen Rückenlehne, setzte mich und blätterte nunlangsamer durch die Seiten. Wo kam diese plötzliche Begeisterung her? Was reizte mich?
Ich überflog Kapitel mit Überschriften wie ›Abgründe und Kabinette der Kuriositäten‹, ›Die scharfzähnigen Seeschlangen von Siren Beach‹, ›Geschichten über das Gullah-Volk‹ und ›Kryptozoologie‹. Schließlich kam ich zu einem Kapitel, das mit ›Ein kurzer geschichtlicher Überblick von Selkie Island‹ überschrieben war. Ich hielt inne und fragte mich, ob mir dies vielleicht ein paar solide Fakten vermitteln könnte. Ich schob einen Stapel Papiere und ein schwarzes, rechteckiges Kästchen auf dem Tisch beiseite, um Platz für das Buch zu schaffen. Dann fing ich an zu lesen:
Es war im Hochsommer des Jahres 1650, als Kapitän William McCloud, ein schottischer Pirat auf dem Weg in die Karibik, den Ort entdeckte, der heute unter dem Namen Selkie Island bekannt ist.
Im Buch wurde nun beschrieben, wie Kapitän McClouds Mannschaft gemeutert und ihn in einem Beiboot vor der Küste Georgias ausgesetzt hatte. Bevor der Pirat vor Hunger verrückt werden konnte, wies ihm eine wunderschöne Meerjungfrau mit grünen Augen und einem rotgoldenen Fischschwanz den Weg an Land. Dort verwandelte sie sich dann in eine menschliche Frau namens Caya. Kapitän McCloud verliebte sich gleich, heiratete sie und gab der Insel den Namen Selkie. Auf den Orkney-Inseln und in Nordschottland erzählte man sich Geschichten von Robben, die an Land kommen und sich in Menschen verwandeln, indem sie ihr Fell ablegen. Diese nannte man Selkies. Kapitän McCloud und Caya hatten viele Kinder, die, wie ihre Mutter, zu Meerwesen wurden, sobald sie in den Ozeantauchten, doch auf dem Land als Menschen lebten. Und gemäß Llewellyn Thorpe bevölkerten die Nachkommen dieser Meerwesen noch immer die Insel.
Amüsiert kicherte ich in mich hinein, las aber weiter:
Meerwesen wie Caya sind seit jeher ein universelles Element der Überlieferung. Die alten Assyrer berichteten von Atargatis: halb Frau, halb Fisch. Und mit den Metamorphosen schenkte Ovid uns Glaucus, den liebeskranken Meermann. Vielerorts werden Sichtungen von Meerjungfrauen als Fehlinterpretationen von Matrosen abgetan, die in Wahrheit Seekühe in den Wellen schwimmen sahen. Doch in seinen Aufzeichnungen schrieb Christoph Columbus von Sirenen, die er vor der Küste Hispaniolas entdeckt hatte, und Henry Hudson schwor, dass er eine Frau mit dem Schwanz eines Tümmlers neben seinem Schiff herschwimmen sah. Gleichwohl findet sich auf und um Selkie das größte Vorkommen von Meerwesen. Das hier angestammte Meervolk ist genauso ein Bestandteil der Insel wie das Louisianamoos und die Sümpfe.
Die Meerwesen von Selkie können für gewöhnlich an ein paar zentralen Merkmalen erkannt werden: eine üppige, sinnliche Schönheit; eine Vorliebe für die Farben Rot und Gold; Freundlichkeit gegenüber Besuchern und Forschern; Häuser nahe dem Strand. Manchmal sind sie des Nachts erkennbar, wenn sie sich …
Ein plötzlicher schriller Schrei erklang von draußen vor dem Haus. Ich fuhr auf meinem Stuhl zusammen, fegte dabei das Buch vom Tisch und sprang auf die Füße. Mein Puls pochte in meinen Ohren, lauter als der Ozean. Jeder Zentimetermeiner Haut war hellwach, meine Nervenenden glühten in höchster Alarmbereitschaft.
Der Schrei ertönte noch einmal. Ich presste eine Hand auf mein noch feuchtes Schlüsselbein und holte tief Luft.
Beruhige dich.
Mir fiel wieder die Website über die Tier- und Pflanzenwelt der Inseln ein, die ich vor meiner Abreise aus New York überflogen hatte. Wahrscheinlich hörte ich den Ruf eines Amerikanischen Austernfischers, eines hier in der Gegend heimischen Vogels. Das war alles.
Was ist los mit dir, Miranda?
Ich blickte auf Llewellyn Thorpes Buch hinunter, aus dem sich einige Seiten gelöst hatten und über den Boden verstreut lagen. Das alberne Buch hatte mir einen Schrecken eingejagt. Ich sah zu dem Porträt, von dem Isadora auf mich herabstarrte – ihre törichte Enkelin, in einem Badeanzug zitternd. Wer war wohl außer mir hier mitten in der
Weitere Kostenlose Bücher