Der Junge aus dem Meer - Roman
pfirsichfarbenes Strandkleid, ihre pechschwarzen Locken fielen auf die wie Porzellan wirkenden Schultern herab, ihre rubinroten Lippen hatten sich zu einem Lächeln geöffnet.
Sie und Mom hatten nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander.
»Du siehst aus wie sie.«
Ich wirbelte herum und sah Mom in der Türöffnung stehen; sie hielt ein silbernes Tablett mit zwei Gläsern und einem Krug Eistee in den Händen. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln und deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Findest du nicht?«
»Machst du Witze, Mom?« Leicht benommen schüttelte ich den Kopf. Ich hatte vielleicht Isadoras Haarfarbe geerbt, aber ihre Schönheitsgene hatten mich eindeutig übergangen, so wie ein Stein über das Wasser hüpft.
»Du hast noch ausreichend Gelegenheit, dir Isadoras Bild anzusehen, während du hier bist.« Mit diesen Worten schob Mom mich durch die Doppeltür auf die Veranda hinaus. Die kühler werdende Luft, den Geruch des Meeres mit sich tragend, glitt über uns. Ich ließ mich auf der gepolsterten Bank nieder und genoss die atemberaubende Aussicht. Schäumende Wellen rauschten gegen das Ufer und verscheuchten zwitschernde Strandläufer; das abgeschwächteSonnenlicht verwandelte das Wasser in glitzernde Diamanten.
»In erster Linie hat sie den Alten Seemann zu einer Art Gedenkstätte ihrer selbst gemacht«, fuhr Mom fort, als sie den Krug anhob. Ein Wasserfall bernsteinfarbener Flüssigkeit ergoss sich zusammen mit einer Kaskade aus Zitronenscheiben und Minzblättern in mein Glas. »Gott, was war diese Frau für ein Monster«, schloss sie seufzend.
Ich schreckte zurück, während ich das Getränk entgegennahm. Mom hatte sich viele Jahre ganz ähnlich über Isadora geäußert, aber nun fühlte es sich nicht richtig an, schlecht über die Toten zu sprechen. Außerdem konnte ich mir die leuchtende Gestalt auf dem Foto nur schwer als Monster vorstellen.
Doch auf der anderen Seite – was wusste ich schon über meine Großmutter? Als ich aufwuchs, hatten Wade und ich gelegentlich Weihnachts- oder Geburtstagskarten von ihr erhalten, die sie in stilisierter, verschlungener Schrift mit
Isadora Beauregard Hawkins
unterschrieben hatte. Ich war immer leicht erstaunt gewesen, dass sie überhaupt von unserer Existenz Kenntnis hatte.
Während Mom sich neben mich setzte, blickte ich sie von der Seite an und fragte mich, wie sie wohl dahin gekommen war, so über ihre Mutter zu sprechen. Als Tante Carol uns vor einer Woche am Telefon von Isadoras Tod informiert hatte, war Moms Gesicht tränenüberströmt und mit einem Mal komplett von roten Flecken übersät gewesen. Ihr Anblick hatte mir einen Schock versetzt; Mom weinte niemals. Doch als ich sie über die Todesursache ausfragte – ich liebe Diagnosen –, war Mom wieder in ihren üblichen lakonischen Modus verfallen. Sie hatte sich die Nase geschnäuzt und geantwortet, dass der Umstand, achtzig Jahre alt zu seinund jeden Tag Pfirsichlikör zu trinken, offenbar zu Komplikationen geführt hatte, die Isadora den Rest gegeben hatten.
»Was ist los, mein Schatz?«, fragte Mom jetzt und riss mich aus meinen Gedanken. Sie goss sich Eistee in ihr Glas und sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Ich weiß, dass du immer sehr nachdenklich bist, aber in letzter Zeit scheinst du …« Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe.
Ich erstarrte. Mom konnte kaum entgangen sein, dass ich mich im Laufe des letzten Monats von der Welt zurückgezogen hatte, so wie sich ein Einsiedlerkrebs im Sand einbuddelt.
Nach der Schule war ich meist zu meiner besten Freundin Linda Wu gegangen oder hatte Greg für ›Nachhilfestunden‹ bei uns zu Hause empfangen. Doch seit Mai war ich immer allein heim gekommen und hatte lange, entspannende Bäder genommen, bevor ich mich auf dem Sofa zusammengerollt und Discovery Channel geguckt hatte.
»Mir geht’s gut«, gab ich schnell zurück und nahm einen Schluck Eistee, doch mein Unbehagen ließ meine Wangen erröten. Ich wollte schon gerne mit Mom reden, ehrlich. Aber ich hatte ein bisschen Angst, dass ich, wenn ich erst mal zu reden anfinge, zusammenbrechen würde.
»Okay.« Mom betrachtete mich aufmerksam. »Aber hier kommen ein paar Neuigkeiten, die dich vielleicht aufmuntern: Morgen findet auf der Uferpromenade eine Party statt. Wir sollten hingehen.«
»Was für eine Party?«, fragte ich und kaute auf einem Blatt Pfefferminz herum. Mein Magen zog sich angesichts der Erinnerung an meine letzte Party zusammen.
»Sie nennt sich die
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