Der Junge, der mit den Piranhas schwamm
„Die ganze Welt ist bekloppt“, murmelte er vor sich hin. Dann schlug er die Tür zu und ging wieder an die Arbeit.
Vier
Stan ging durch die steil abfallenden Straßen, vorbei an der Kneipe Zum Schifferglück und an der Herberge der Heilsarmee, vorbei am Oxfam-Laden und an den schlurfenden Männern mit den hängenden Köpfen. Er rannte über die Wiese zum Jahrmarkt. Der war riesig, lärmend und hell. Die Karussells drehten sich, aber es war noch früh, deshalb waren kaum Besucher da. Nur eine Handvoll Bummler, ein paar Frauen mit rostigen Kinderwagen und noch mehr schlurfende Männer mit hängenden Köpfen. Und natürlich die Leute vom Jahrmarkt selbst mit ihren Goldzähnen und den dicken, zerzausten Haaren, den gepiercten Wangen und den Geldbörsen mit klappernden Münzen um die Taille. Sie lehnten sich an die Wagen ihrer Fahrgeschäfte oder an ihre Buden, tranken aus dampfenden Teetassen und rauchten seltsam riechende Zigaretten. Sie starrten Stan an, der schüchtern vorbeiging. Murmelnd unterhielten sie sich in einer unverständlichen Sprache. Sie husteten und fluchten, spuckten und brüllten vor Lachen.
Stan fuhr ganz allein mit dem Karussell und er fuhr auch ganz allein mit der Berg-und-Tal-Bahn. Ganz allein stieg er mit dem Riesenrad in die Luft. Er schaute hinunter auf seine Welt: auf den Fluss, die steilen Straßen, die leeren Stellen, wo früher die Werft und die Fabriken gestanden hatten. Er sah seine alte Schule, die St.-Mungo-Grundschule, und die Kinder, die im Schulhof spielten. Er sah sein Haus in der Fischzuchtgasse. Er sah den Dampf der Maschinen seines Onkels durch den Schornstein quellen. Rundherum ging es für ihn, hoch und runter, rundherum und rundherum und hoch und runter. Er sah die Stadt und die Berge in der Ferne. Er sah das glitzernde, herrliche Meer, das sich bis in die Ewigkeit erstreckte, sah den tiefblauen, herrlichen Himmel, der endlos war. Er dachte an seine herrliche Mama und seinen Papa, und hoch oben im Himmel vergoss er ein paar stille Tränen der Trauer. Er dachte an seine Tante und seinen Onkel und wie dankbar er war, dass er sie hatte. Er versuchte sich die Welt jenseits des Meeres und das Universum jenseits des Himmels vorzustellen, und in seinem Kopf drehte sich alles, weil der Gedanke so endlos und herrlich und erstaunlich war.
Wieder unten auf der Erde aß er einen glitschigen Hotdog und klebrige Zuckerwatte. Er leckte sich die Lippen und die Finger ab und ging an einem uralten, rot und grün gemusterten Wohnwagen vorbei. Wahrsager-Rosi war über den niedrigen Eingang gemalt. Daneben stand ein weißes Pony mit einem Futterbeutel vor dem Maul. Eine Frau in einem grellbunt gemusterten Schal trat an den Eingang. Sie lockte Stan mit ihrem gekrümmten Zeigefinger.
„Ich bin die Ururenkelin der echten Wahrsager-Rosi“, sagte sie zu ihm. „Komm herein und lege mir ein Silberstück in die Hand. Als Gegenleistung werde ich dir Geschichten voller Wunder und Geheimnisse verkünden.“
Stan leckte sich den letzten Rest Zuckerwatte von den Fingern.
„Ich werde dir sagen, wann deine Probleme vorbei sind“, sagte Wahrsager-Rosi.
„Woher wissen Sie, dass ich Probleme habe?“, fragte Stan.
„Das kann doch jeder sehen, der Augen im Kopf hat. Wie heißt du, junger Mann?“
„Stan“, sagte Stan.
„Nur ein Silberstück, Stan“, sagte sie. Dann senkte sie die Stimme. „Sei mutig und tritt ein.“
Stan wollte schon die Stufen zum Eingang hochsteigen, als er aus dem Augenwinkel ein goldenes Aufflackern erhaschte.
Goldfische. Sie hingen in einer Reihe an einer Bude, bei der man mit einem langen Stab Enten aus dem Wasser angeln konnte. Es waren dreizehn winzige Goldfische, von denen jeder einzelne in einem winzigen Plastikbeutel schwamm, der an einem orangefarbenen Band befestigt war und in der Sonne hing. Ohne nachzudenken wandte er Wahrsager-Rosi den Rücken zu und ging in Richtung der Fische.
Wahrsager-Rosi sagte: „Lebe wohl. Du bist verzaubert. Du wirst trauern. Du wirst reisen. Und wir werden uns wiedersehen.“
Sie ging wieder in ihren Wagen. Stan trat auf die Bude mit den Enten zu. Die Plastiktüten waren so winzig und es befand sich viel zu wenig Wasser darin. Die Fische waren herrlich, wundervoll mit ihrer goldenen Haut und den Kiemen, den Flossen und den saugenden Mündern, den zarten Schuppen und lieblichen dunklen Augen. Er griff nach oben.
„He! Was machst’n da, Jung?“
Stan zuckte zusammen. Ein Mann kam herbei und stellte sich genau unter die
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