Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
weiße Tuch über der Trage in Erinnerung rufen: Kein Notarzt würde jemandem das Tuch über den Kopf ziehen, der nicht tot war.
Er würde Lily Pierson schreiben müssen, einen richtigen handschriftlichen Brief, und traute sich auch zu, höflich und mitfühlend zu sein und so weiter. Aber was würde Lily je von dem kleinen Gartenhaus in Moret erfahren, wo Frank geschlafen hatte, von Berlin oder gar von Teresas Macht über ihren Sohn? Woran hatte der Junge beim Fall auf die Felsen als letztes gedacht? An Teresa? An den Vater, an dessen tödlichen Sturz von ebenjener Klippe? Oder womöglich an ihn? Tom rutschte auf seinem Sitz herum und schlug die Augen auf. Die Stewardessen gingen schon durch den Gang. Er seufzte, bestellte irgendwas, Bier oder Scotch, Essen oder nichts, es war ihm egal.
Was für ein Witz, dachte er: Wie sinnlos waren nun die doch einigermaßen durchdachten Vorträge, die er dem Jungen über Geld oder Macht und Geld gehalten hatte! Nutze es, ja genieße es, aber beides in Maßen, hatte er gesagt, und hör auf mit den Schuldgefühlen. Gib ein bißchen für wohltätige Zwecke, für Kunstprojekte, für was du willst, gib es jenen, die es brauchen. Und genau wie Lily hatte auch er gesagt, daß andere bei Pierson die Führung der Firma übernehmen könnten, wenigstens bis Frank das College hinter sich hätte, vielleicht sogar noch länger. Aber er müsse ein wenig bei Pierson hineinschnuppern, seinen Namen (unter Umständen neben dem seines Bruders) ganz oben auf die Liste der Vorstandsmitglieder setzen lassen, und nicht einmal das hatte Frank gewollt.
Irgendwann, irgendwo, kilometerhoch in einem schwarzen Himmel, schlief Tom unter der Decke ein, die eine rothaarige Stewardess gebracht hatte. Als er aufwachte, ging strahlend die Sonne auf – scheinbar zur falschen Zeit, wie alles andere auch –, und die Maschine flog über Frankreich; so hieß es in der Durchsage, die ihn geweckt hatte.
Wieder Roissy und die schimmernden Rolltreppen der satellites. Eine nahm er nach unten, mit seinem Handgepäck. Tom hätte Probleme mit dem neuen Koffer samt Inhalt bekommen können, legte sich aber einen starren, gleichgültigen Blick zu und passierte ungehindert die Schranke » NICHTS ZU VERZOLLEN «. Er suchte sich aus dem Fahrplan in seiner Brieftasche einen Zug heraus und rief Belle Ombre an.
»Tomme!« sagte Héloïse. »Wo bist du denn?«
Sie konnte nicht glauben, daß er in Charles de Gaulle war, er nicht, daß sie ihm so nah sein sollte. »Ich kann um halb eins in Moret sein, kein Problem. Habe gerade nachgeschaut.« Auf einmal lächelte er. »Alles in Ordnung?«
Ja, nur daß Madame Annette auf der Treppe ausgerutscht oder gestürzt war und sich das Knie verstaucht hatte. Doch selbst das schien nicht ernst – sie laufe herum wie immer, sagte Héloïse. »Warum hast du nicht geschrieben? Oder angerufen?«
»Ich war doch nur so kurz drüben«, erwiderte Tom. »Zwei Tage, mehr nicht! Erzähle dir mehr, wenn ich bei dir bin. 12:31.«
»A bientôt, chéri!« Sie würde ihn abholen.
Tom nahm ein Taxi zum Gare de Lyon (sein Gepäck war trotz allem nicht zu schwer gewesen) und bestieg mit dem Figaro und Le Monde unterm Arm den Zug nach Moret. Erst als er die Zeitungen fast vollständig überflogen hatte, merkte er, daß er gar nicht nach Meldungen über den Jungen gesucht hatte. Allerdings war die Zeit für diese Blätter auch zu kurz gewesen, einen Bericht über seinen Tod zu bringen. Würde er auch diesmal wieder als möglicher »Unfall« hingestellt werden? Was würde seine Mutter sagen? Daß ihr Sohn sich das Leben genommen habe, nahm er an. Sollten die Geschichte oder die Klatschblätter sich ihren eigenen Reim machen auf zwei Todesfälle am selben Ort, im selben Sommer.
Héloïse wartete neben dem roten Mercedes. Ihr Haar wehte im Wind. Sie sah ihn und winkte, doch er konnte nicht zurückwinken, nicht mit zwei Koffern plus einer Plastiktasche voller Taschenbücher, Zeitungen und holländischer Zigarren. Er küßte sie auf beide Wangen und auf den Hals.
»Wie geht es dir?« fragte Héloïse.
»Aah…« Tom lud das Gepäck in den Kofferraum.
»Ich dachte, du kommst vielleicht mit Frank zurück.« Sie lächelte.
Tom staunte, wie glücklich sie aussah. Als sie vom Bahnhof losfuhren, fragte er sich, wann er ihr von dem Jungen erzählen sollte. Héloïse hatte fahren wollen; nun lagen die Ampeln und der dichte Verkehr von Moret hinter ihnen, und sie fuhr in Richtung Villeperce. »Ich kann es dir auch
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