Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Mitternacht kam er im Hotel Chelsea an. In der Halle mit einem rechteckigen Kamin und schwarzweißen Plastiksofas, die gegen Diebstahl an den Boden gekettet waren, sangen ein paar Leute. Tom kannte den Text, ein Limerick. Unter großem Gelächter suchten die Jungs und ein paar Mädchen, alle in Levis, auf Gitarren nach der passenden Melodie dazu. Ja, sie hätten ein Zimmer für Mr. Ripley, sagte der Mann in der Tweedjacke hinter dem Tresen. Tom warf einen Blick auf die Ölgemälde an den Wänden. Manche waren, wie er wußte, dem Hotel von Gästen überlassen worden, die ihre Rechnung nicht bezahlen konnten. Als Farbton überwog Tomatenrot. Tom betrat den altmodischen Aufzug.
Tom duschte, zog seine ältesten Hosen an und legte sich für ein paar Minuten aufs Bett, um zu entspannen, doch es war hoffnungslos. Das Beste wäre, etwas zu essen (obwohl er nicht hungrig war), ein bißchen in der Stadt herumzulaufen und dann zu versuchen zu schlafen. Am Kennedy-Flughafen hatte er für den nächsten Abend einen Flug nach Paris gebucht.
Also verließ er das Hotel und ging die Seventh Avenue entlang, an den Delis , Schnellrestaurants und Imbißbuden vorbei, die geschlossen oder noch geöffnet waren. Bierdosenringe glänzten matt metallisch auf dem Bürgersteig; Taxis taumelten trunken in Schlaglöcher, fuhren rumpelnd weiter. Groß, schwerfällig und aggressiv, erinnerten sie Tom an die Citroënlimousinen in Frankreich. Vor ihm und beiderseits der breiten Straße ragten hohe schwarze Gebäude, Büro- oder Apartmenthäuser, gleich massigen, kantigen Auswüchsen des Landes in den Himmel über der Stadt. Viele Fenster waren erleuchtet. New York schlief nie.
Tom hatte zu Lily gesagt: »Es gibt keinen Grund mehr für mich, länger zu bleiben.« Bis zur Beerdigung, hatte er gemeint, aber auch, daß er nichts mehr für den Jungen tun konnte. Dessen ersten Selbstmordversuch keine Stunde zuvor hatte er nicht erwähnt, denn Lily hätte womöglich einfach erwidert: »Warum haben Sie ihn danach nicht im Auge behalten?« Nun, er hatte eben angenommen, Frank habe seinen Tiefpunkt hinter sich. Zu Unrecht.
Er betrat einen Eckimbiß mit Hockern am Tresen und bestellte einen Hamburger und Kaffee. Setzen wollte er sich nicht, und hier konnte man sicher im Stehen essen. Zwei schwarze Gäste stritten über eine Wette, die sie abgeschlossen hatten, und über den Buchmacher, zu dem beide gingen – ob er ein Schwindler sei oder nicht. Es klang furchtbar kompliziert, Tom hörte nicht weiter hin. Morgen könnte er ein paar New Yorker Bekannte anrufen, nur mal hallo sagen. Doch der Gedanke war wenig verlockend. Er fühlte sich schrecklich, verloren und ziellos. Den Hamburger aß er nur zur Hälfte, trank den schwachen Kaffee nicht aus, zahlte und ging. Weiter, zur Fortysecond Street. Inzwischen war es fast zwei Uhr morgens.
Hier war die Stimmung besser, wie in einem verrückten Zirkus oder auf einer Theaterbühne, wo man in den Kulissen herumlaufen durfte. Riesige Polizisten in blauen, kurzärmeligen Hemden schwangen ihre hölzernen Schlagstöcke und scherzten mit den Huren, die sie eigentlich festnehmen sollten. Tom hatte unlängst davon gelesen. Ob sie dieselben Huren so oft aufs Revier gebracht hatten, daß sie es leid waren? Oder hatte die Razzia eben erst begonnen? Jungs, keine Zwanzig, mit Make-up und Augen, die alles gesehen hatten, musterten die älteren Männer, die sie kaufen wollten – manche hielten die Scheine schon in der Hand.
»Nein«, sagte Tom leise und zog den Kopf ein, als eine Blondine auf ihn zukam: scheußlich pralle Schenkel, in glänzendschwarze Kunstfaser gezwängt. Verblüfft las er die derben, banalen Filmtitel über den Kinoeingängen. So wenig Talent in der Pornoindustrie! Aber deren Kunden wollten weder Feinheit noch Wortwitz. Und dann all die überdimensionalen Farbfotos von Nackten, von Männern und Frauen, Männern und Männern, Frauen und Frauen, die es allem Anschein nach miteinander trieben, und Frank hatte es mit Teresa nicht einmal tun können, als er es versucht hatte! Grotesk, aber amüsant – Tom lachte kurz auf. Mit einem Mal reichte es ihm, und er schob sich schnell durch die dahinschlurfenden Schwarzen und die teiggesichtigen Weißen auf den dunklen Klotz der großen New Yorker Stadtbibliothek an der Ecke zur Fifth Avenue zu. So weit ging er nicht, sondern wandte sich nach Süden, als er die Sixth Avenue erreichte.
Ein Seemann schoß aus einer Bar rechts von Tom und stieß mit ihm zusammen. Er fiel
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