Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Falls ihr Ostgeld nicht reichte, dachte Tom, würde der Kellner mit Vergnügen auch D-Mark nehmen. Sie setzten sich. Der Junge musterte nachdenklich die anderen Gäste – einen Mann in dunklem Anzug mit Brille, der alleine aß; zwei pummelige Mädchen, die an einem Tisch in der Nähe vor sich hin plapperten und Kaffee tranken –, als studiere er im Zoo Tiere einer neuentdeckten Spezies. Tom fand das amüsant: Für Frank waren das vermutlich kommunistisch angehauchte »Russen«.
»Eigentlich sind sie nicht alle Kommunisten«, sagte Tom. »Das sind Deutsche.«
»Ich weiß. Aber schon die Vorstellung, daß sie nicht einfach nach Westdeutschland gehen und dort leben können… Das stimmt doch, oder?«
»Ja. Das können sie nicht.«
Ihr Essen kam. Tom wartete, bis die blonde, freundlich lächelnde Kellnerin verschwunden war. »Allerdings sagen die Russen, sie hätten die Mauer gebaut, damit die Kapitalisten nicht hierher kommen. Jedenfalls ist das die offizielle Linie.«
Am Alexanderplatz tranken sie oben auf dem hohen Turm, dem Stolz von Ost-Berlin, einen Kaffee und bewunderten die Aussicht. Danach wollten beide nur noch weg.
Kaum hatten sie den Grenzstreifen an der Mauer passiert und fuhren mit der ratternden S-Bahn Richtung Tiergarten, gab ihnen West-Berlin das Gefühl von weitem, unbegrenztem Raum, obwohl die Stadt doch eingeschlossen war. Sie hatten im Osten noch ein paar Zehnmarkscheine gewechselt; Frank betrachtete die ostdeutschen Münzen in seinen Händen.
»Ich könnte das Kleingeld als Souvenir behalten – oder ein paar Stück an Teresa schicken, nur zum Spaß.«
»Bitte nicht von hier«, sagte Tom. »Nimm sie mit nach Hause.«
Es tat ihnen gut, im Zoo die Löwen zu sehen, die scheinbar frei herumtrotteten, die Tiger, die träge am eigenen Schwimmbecken lagen und den Menschen ins Gesicht gähnten – wenn auch durch einen Wassergraben von den Besuchern getrennt. Gerade als Tom und Frank vorbeikamen, reckte der Trompeterschwan seinen langen Hals in die Höhe und trompetete laut los. Sie ließen sich Zeit, kamen dann zum Aquarium, wo der Junge den Drückerfisch sofort ins Herz schloß: »Unglaublich!« Vor Staunen blieb ihm der Mund offenstehen, auf einmal wirkte er wie ein zwölfjähriges Kind. »Diese Wimpern! Wie angeklebt !«
Tom lachte. Er beobachtete den kleinen, leuchtendblauen, kaum fünfzehn Zentimeter langen Fisch, der gemächlich seines Weges schwamm, mit halber Kraft sozusagen, und nichts zu suchen schien, wenn er auch andauernd sein Mäulchen auf und zu klappte, als wollte er etwas fragen. Die Lider seiner übergroßen Augen waren schwarz umrandet; darüber und darunter stachen lange schwarze Borsten wie Wimpern hervor, anmutig geschwungen, als habe ein Cartoonzeichner sie ihm mit Fettstift auf die blauen Schuppen gemalt. Ein Wunder der Natur, dachte Tom. Er hatte den Fisch schon einmal gesehen, doch erneut stand er staunend davor, und es freute ihn, daß der Junge den Drückerfisch mehr bewunderte als den berühmten Picassofisch: Auch der war eher klein, sein gelber Körper wies schwarze Zickzackstreifen auf, die an Pinselstriche aus Picassos kubistischer Periode erinnerten, und aus einem blauen Streifen oben am Kopf sprossen mehrere kleine Antennen. Höchst merkwürdig, das bestimmt, doch mit dem Drückerfisch und diesen Augenwimpern konnte er es nicht aufnehmen. Tom wandte den Blick von der Welt unter Wasser, ging weiter und kam sich vor wie ein unbeholfener Fleischberg, der Luft atmen mußte.
Die Krokodile in ihren geheizten Glasterrarien, über die eine Fußgängerbrücke führte, wiesen etliche schwach blutende Wunden auf, sicher von ihren Artgenossen. Im Augenblick aber dösten sie alle und grinsten furchterregend.
»Genug gesehen?« fragte Tom. »Ich würde gern weiter zum Bahnhof Zoo.«
Sie verließen das Aquarium und gingen die paar Straßen zum Bahnhof, wo Tom wieder französische Francs wechselte. Auch der Junge tauschte Geld.
»Weißt du, Ben«, sagte Tom, als er seine D-Markscheine einsteckte, »noch einen Tag hier, dann solltest du allmählich daran denken, nach Hause zu fliegen.« Er hatte einen Blick in die Bahnhofshalle geworfen, wo sich Huren, Hehler, Schwule, Stricher, Fixer und Gott weiß was alles trafen. Er ging weiter, während er sprach, wollte den Bahnhof verlassen, weil er fürchtete, einer der hier herumlungernden Leute könnte sich aus irgendeinem Grund für den Jungen und ihn interessieren.
»Vielleicht fahr ich nach Rom«, sagte Frank. Sie gingen in
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