Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Kurfürstendamm nahmen sie eine altmodische Straßenbahn nach Charlottenburg und verbrachten mehr als eine Stunde im Museum für Vor- und Frühgeschichte und in der Gemäldesammlung des Schlosses. Lange stand Frank vor den Modelldarstellungen menschlicher Arbeit aus längst vergangenen Zeiten im Berliner Raum: Männer in Tierpelzen, die dreitausend Jahre vor Christus Kupfer abbauten. Wie im Beaubourg hielt Tom andauernd Ausschau, ob sich jemand für Frank interessiere, sah aber nur Eltern mit plappernden Kindern, die neugierig in Glaskästen starrten. Berlin bot ein sanftes, harmloses Bild, bislang jedenfalls.
Dann eine andere Straßenbahn, zurück zur Charlottenburger S-Bahn-Station, und die Fahrt zum Bahnhof Friedrichstraße, zur Mauer. Tom hatte seinen Stadtplan dabei. Die ganze Zeit fuhren sie oberirdisch, dabei sah der Zug aus wie eine U-Bahn, wie die Londoner Underground oder die New Yorker Subway. Frank starrte durchs Fenster auf die vorbeiziehenden Mietshäuser, meistens alt und schäbig, also nicht zerbombt. Dann die Mauer: grau, drei Meter hoch, wie versprochen, mit Stacheldraht darauf. Manche Stellen, erinnerte sich Tom, hatten Ostberliner Soldaten vor einigen Monaten, vor Präsident Carters Besuch in West-Berlin, mit Deckfarbe übersprüht, damit die Ostberliner und die vielen Ostdeutschen, die westdeutsches Fernsehen empfangen konnten, nicht die antisowjetischen Sprüche lesen konnten, die dort gestanden hatten.
Tom und Frank mußten in einem Raum mit rund fünfzig anderen warten, Touristen, aber auch Westberliner, viele beladen mit Einkaufstaschen, Körben voller Früchte, Fleischkonserven und Schachteln wie von Kleidergeschäften. Die Berliner waren meist ältere Leute, die wahrscheinlich zum soundsovielten Mal ihre seit dem Mauerbau 1961 abgeschnittenen Geschwister und Cousins besuchten. Endlich rief eine junge Frau hinter einem Gitterfenster die siebenstellige Zahl der beiden, und sie durften mit anderen nacheinander in einen anderen Raum vorrücken, in dem ein langer Tisch stand, dahinter ostdeutsche Soldaten in graugrünen Uniformen. Eine andere Frau gab ihnen die Pässe zurück; ein paar Meter weiter mußten sie bei einem Soldaten sechs D-Mark und fünfzig Pfennig knapp eins zu eins in ostdeutsche Mark umtauschen. In Tom sträubte sich etwas dagegen, das Ostgeld anzufassen. Er steckte es in die leere linke Gesäßtasche.
Nun waren sie »frei«. Tom lächelte bei dem Gedanken, als sie die Friedrichstraße betraten, die hier, jenseits der Mauer, weiterging. Er zeigte auf die noch immer nicht gesäuberten Fassaden der preußischen Königspaläste. Warum zum Teufel reinigten die Ostdeutschen sie nicht, fragte er sich, oder pflanzten Hecken um sie herum, wenn sie doch auf den Rest der Welt einen guten Eindruck machen wollten?
Der Junge sah sich, vorerst sprachlos, nach allen Seiten um.
»Unter den Linden«, bemerkte Tom nicht gerade gut gelaunt. Aus Selbsterhaltungstrieb versuchte er dennoch, aufmunternd zu wirken, nahm Frank am Arm und steuerte ihn nach rechts in eine Straße. »Hier entlang.«
Hier, wieder in der Friedrichstraße, ragten lange Imbißstände vor Gaststätten über den halben Bürgersteig. Die Leute löffelten Suppen, aßen belegte Brote, tranken Bier; manche wirkten in ihren staubigen, mörtelverschmierten Arbeitsuniformen wie Bauarbeiter, andere, Frauen und Mädchen, wie Büroangestellte.
»Ich könnte einen Kugelschreiber kaufen«, sagte Frank. »Wäre doch lustig, hier was zu kaufen, egal was.«
Sie kamen an einen Schreibwarenladen mit einem leeren Zeitungsständer davor; auf dem Schild an der Eingangstür stand auf deutsch: GESCHLOSSEN, WEIL MIR DANACH WAR . Tom lachte und übersetzte für Frank.
»Muß doch noch einen Laden hier geben«, sagte Tom, als sie weitergingen.
Den gab es auch, doch auch der war nicht offen, und diesmal verkündete das handgeschriebene Schild: WEGEN KATER GESCHLOSSEN . Frank fand das zum Schreien komisch.
»Vielleicht haben sie doch Sinn für Humor, aber ansonsten sieht es hier so aus, wie es in dem Artikel stand – irgendwie öde.«
Auch Tom spürte wieder die schleichende Tristesse, die ihn schon bei seinem ersten Besuch Ost-Berlins befallen hatte. Die Kleider der Leute hingen schlaff herunter. Er war nur mitgekommen, weil der Junge die Stadt sehen wollte. »Gehen wir was essen, das wird uns aufheitern.« Tom deutete auf ein Restaurant.
Eine große, eher biedere und betriebsame Gaststätte; manche der langen Tische waren weiß eingedeckt.
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