Der Junge, der sich in Luft auflöste
setzte sich zu mir aufs Bett. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Ted. Entweder er ist freiwillig verschwunden ⦠oder jemand anders ist daran schuld.«
»Jemand anders«, wiederholte ich.
»Was bedeutet, dass irgendwer ihn irgendwo festhält.«
»Festhält.« Ich kletterte aus dem Bett und machte das Fenster auf. »Irgendwer irgendwo«, wiederholte ich. Der Nordostwind blies herein. Die Zettel auf meinem Schreibtisch flogen durchs Zimmer. Ein Blatt von einem Baum wirbelte herein. Ich dachte an den Coriolis-Effekt und konnte die Welt da drauÃen riechen. Ich konnte London riechen.
»Irgendwer irgendwo«, flüsterte Kat. Sie kam zu mir ans Fenster und legte mir ihren Arm um die Schulter.
»Oder etwas«, sagte ich.
Der Wind blies noch für ein paar Sekunden herein, dann schloss Kat das Fenster wieder. »Was meinst du damit ⦠etwas?«
»Weià nicht«, sagte ich. »Vielleicht ist ihm ja etwas dazwischengekommen, was Salim von seinem Kurs abweichen lieÃ. Wie der Coriolis-Effekt. Der lenkt den Wind auch dauernd um.Aber er ist keine Person. Sondern eine Kraft. Etwas, was man nicht mal sehen kann.«
»Du meinst, Salim ist irgendetwas zugestoÃen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht.«
»Okay. Ihm ist irgendetwas zugestoÃen und er konnte nicht nach Hause gehen. Aber dann wäre er doch irgendwo aufgetaucht ⦠Dann hätte man seinen Körper doch gefunden. Oder er läge irgendwo in einem Krankenhaus. Die Polizei hätte ihn aufgespürt. Es sei denn â¦Â« Kats Hände zuckten nach oben Richtung Hals und sie riss die Augen auf.
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, er ist in die Themse gefallen. Und ertrunken.«
Ich dachte an die Kormorane, wie sie erst ihren Kopf eingetaucht hatten und dann im Wasser verschwanden. Meine Hand begann zu schlackern.
»Man fällt nicht einfach so in den Fluss, Kat. Dann müsste man schon mit Absicht reinspringen.«
Kat schnappte erschrocken nach Luft und ihre Augen wurden immer gröÃer. »Vielleicht hat Salim ja genau das getan: mit ⦠Absicht ⦠reinspringen.«
»Nein«, sagte ich.
Kat starrte vor sich hin. Ich legte meine schlackernde Hand auf ihre weiche und zugleich knochige Schulter.
»Nein«, sagte ich.
Sie atmete aus. »Nein. Du hast Recht. Das würde er nicht tun. Er nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Okay, dieses Coriolis-Dingsda. Was war Salims Coriolis-Dings?«
»Ich weià es nicht.« Ich nahm meinen Kopf in beide Hände und schüttelte ihn. »Ich versuche nachzudenken. Aber mein Gehirn ist müde.«
»Wir sind jetzt Salim, Ted. Wir stellen uns vor, wir stehen an der Euston Station. Lass uns noch mal alles Schritt für Schritt durchspielen. Im Kopf. Versuch dich zu erinnern. Er kennt sich in London nicht so gut aus. Er hat eine Dauerkarte, richtig?«
»Richtig, Kat.«
»Er winkt Marcus zum Abschied. Klar so weit?«
»Ja.«
»Was dann?«
»Er sieht auf seine Armbanduhr. Es ist vier Uhr nachmittags«, sagte ich.
»Und er weiÃ, dass Tante Glo ausrasten wird. Also greift er nach seinem Handy â¦Â«
»â¦Â und stellt fest, dass er es nicht mehr bei sich hat«, ergänzte ich. »Es steckt immer noch in der rosaroten Flauschjacke.«
»Also geht er zu einer Telefonzelle, richtig?« Kat runzelte die Stirn.
»Falsch. Dafür hatte er kein Geld, Kat. Er hat alles ausgegeben. Die Einwegkamera. Die Marsriegel. Die Cola. Die StraÃenkünstler.«
»Ach ja, natürlich. Er hat also nur seine Dauerkarte. Also beschlieÃt er, einfach nach Hause zu fahren.«
»Er geht die Treppe hinunter zur U-Bahn.«
»Woher willst du das wissen, Ted?«
»Sie ist am schnellsten. Und für jemanden, der sich in London nicht auskennt, am einfachsten zu benutzen.«
»Okay. Er schaut auf den U-Bahn-Plan. An diesem Morgen ist er schon einmal mit der Nordlinie gefahren. Er ist nicht blöd. Und es ist einfach. Die Linie fährt von Euston direkt durch bis zu uns, ohne Umsteigen. Kein Problem. Er geht zum Bahnsteig. Und steigt in den Zug.«
»Euston. Tottenham Court Road. Leicester Square. Embankment. Waterloo«, sagte ich.
»Und dann weiter bis zu unserer Station.«
»Da steigt er aus.«
»Und nimmt den Aufzug.«
»Er kommt oben an.«
»Er zeigt seine Dauerkarte vor oder steckt sie in den Schlitz zum
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