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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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jeden einzelnen Steinumdrehen, um Salim zu finden. Dann ging sie ebenfalls. Tante Gloria begann wieder zu weinen.
    Mum schickte Kat und mich hinauf ins Bett.
    Wir versuchten gar nicht erst zu schlafen. Kat saß auf ihrer Luftmatratze. Ich saß auf meinem Bett und hatte die Nachttischlampe angeknipst. In meinem Kopf hämmerte es.
    Â»Ted?«, fragte Kat.
    Â»Was?«
    Â»Du hast doch gedacht, du hättest ihn gefunden. Und dann war es doch nicht so. Und jetzt ist er immer noch weg.«
    Â»Ja, Kat. Weg.«
    Â»Das gefällt mir nicht, Ted.« Sie erschauerte. »Und der Kommissarin auch nicht.«
    Â»Nein.«
    Â»Sie ist die ganze Zeit davon ausgegangen, dass Salim abgehauen ist. Aber jetzt denkt sie’s nicht mehr.«
    Â»Nein.«
    Â»Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Ted.«
    Â»Welche?«
    Â»Entweder ist er tatsächlich abgehauen, oder er wurde entführt.«
    Â»Entführt?«
    Â»Ja.«
    Â»Aber warum denn? Tante Gloria ist doch keine Millionärin, oder?«
    Â»Oh, Ted. Du bist so jung. Kinder werden aus anderen Gründen entführt.«
    Â»Was denn für andere Gründe?«
    Â»Schau mich nicht an wie jemand, der zu doof zum Scheißen ist!«
    Ich hielt den Kopf wieder gerade und zwinkerte. »Was denn für andere Gründe, Kat?«
    Â»Sex und so.«
    Meine Hand begann zu schlackern.
    Kat legte sich hin und rollte sich zusammen. Aber sie schlief nicht ein. Ich hörte keine Schlabbergeräusche wie bei einem trinkenden Hund. Nach einer ganzen Weile machte ich das Radio an und drehte auf leise. Es lief der Seewetterbericht um Mitternacht. »Und hier die allgemeinen Aussichten um 0 Uhr Weltzeit, herausgegeben vom Wetteramt: Tief ›Fitzroy‹ vorwiegend Nord 6 bis 7, später aus unterschiedlichen Richtungen, gewittrig … Forth, Tyne, Dogger 6 bis 7 …« Im Süden zog Regen heran. Es wurde stürmischer. Ich hörte, wie drei Äste auf das Dach des Gartenschuppens trommelten, und dachte an die Wäsche auf der Leine, die wieder klatschnass wurde. Heftige Böen mit Regen knallten gegen das Fenster. Ich holte mein Wetterbuch hervor und schlug den Abschnitt über den Coriolis-Effekt auf. In meinem Kopf hörte ich Salim, wie er am Bahnhof zu Marcus sagte: Kat und Ted sind super.
    Ich dachte an den Jungen auf dem Metalltisch. An Salim, irgendwo in der großen, stillen Leere, oder wie er dort draußen im heraufziehenden Sturm irgendwo lag. Zwei Möglichkeiten. Untergetaucht oder entführt.
    Â»Mach das aus, Ted. Das Radio. Ich werd wahnsinnig davon.«
    Kats Stimme. Ich schaltete es ab.
    Â»Ich kann nicht schlafen«, stöhnte sie.
    Â»Kat, die Theorien, weißt du? Die neun Theorien.«
    Â»Fang nicht wieder damit an. Bitte!«
    Â»Eine hat gestimmt, richtig?«
    Â»Ja doch. Nummer sechs, du Schlauberger.«
    Â»Aber erinnerst du dich daran, dass ich zuerst nur acht hatte und später dann neun?«
    Â»Und?«
    Â»Vielleicht stimmt es ja nicht, was du vorhin gesagt hast.«
    Â»Was meinst du?«
    Â»Du hast gesagt, es gibt nur zwei Theorien. Entweder er versteckt sich irgendwo, oder er ist entführt worden. Aber vielleicht gibt es ja noch eine dritte. So wie vorher die neunte. Eine, an die wir bislang noch nicht gedacht haben.«
    Jetzt hörte sie zu. Sie stand auf und knipste das große Licht an. »Das sagst du was. Eine dritte Theorie. Es muss eine geben.«
    Sie begann neben der Luftmatratze auf und ab zu gehen und schlug dabei ihre Faust in die andere Hand, wie bei einem Schnick-Schnack-Schnuck-Spiel, bei dem Stein auf Papier trifft. Als ich klein war, war es das einzige Spiel, das ich konnte, und mein Lieblingsspiel. Meine Finger formten eine Schere. Sie war wie die dritte Theorie, die wir finden mussten.
    Ich dachte laut nach: »Vielleicht ist Salim wieder absichtlich verschwunden. Weil er es wollte. Vielleicht lügt Marcus ja.«
    Kat blieb stehen und sah mich an. »Marcus hat die Wahrheit gesagt.«
    Â»Woher weißt du das?«
    Â»Ich weiß es einfach. Es liegt an der Körpersprache, Ted. Genauso wie ich wusste, dass die neunte Theorie falsch war. Das hier ist dasselbe. Die Art und Weise, wie Marcus es gesagt hat, macht mich einfach sicher. Salim wollte nicht verschwinden. Er wollte hierher zurückkommen. Er hatte seinen Plan abzuhauen aufgegeben.«
    Â»Das bedeutet also, dass er unabsichtlich verschwunden ist.«
    Â»Ja.« Sie

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