Der Junge
sieht die Welt, wie sie ist, dann bewölkt sich der Himmel, und er ist wieder er selbst und lebt die einzige Geschichte, die er zuläßt, die eigene Geschichte.
Die Mutter steht am Ausguß, in der dunkelsten Küchenecke.
Sie kehrt ihm den Rücken zu, auf ihren Armen sind Schaumflocken, sie scheuert einen Topf, ohne große Eile. Und er geht auf und ab, redet über irgend etwas, er weiß nicht worüber, er redet mit der üblichen Heftigkeit, beklagt sich.
Sie blickt von ihrer Arbeit hoch; ihr Blick streift über ihn. Es ist ein besorgter Blick, ohne jede Zärtlichkeit. Sie sieht ihn nicht zum ersten Mal. Eher sieht sie ihn, wie er immer gewesen ist und wie sie ihn immer gekannt hat, wenn sie sich keinen Illusionen hingibt. Sie sieht ihn, zieht Bilanz und ist nicht erfreut. Er langweilt sie sogar.
Das befürchtet er von ihrer Seite, von der Person auf der ganzen Welt, die ihn am besten kennt, die den riesigen Vorteil ihm gegenüber hat, alles über seine ersten, hilflosesten, intimsten Jahre zu wissen, Jahre, an die er trotz aller Anstrengungen keinerlei Erinnerung hat; die vielleicht, weil sie neugierig ist und ihre eigenen Informationsquellen hat, auch die armseligen Geheimnisse seines Schullebens kennt. Er hat Angst vor ihrem Urteil. Er fürchtet die kühlen Gedanken, die ihr in solchen Augenblicken durch den Kopf gehen müssen, wenn sie durch keine Leidenschaft gefärbt werden, wenn es keinen Grund dafür gibt, daß ihr Urteil anders als klar sein sollte; vor allem fürchtet er den Augenblick, einen Augenblick, der noch nicht gekommen ist, wenn sie ihr Urteil aussprechen wird. Es wird wie ein Blitzschlag sein; er wird es nicht aushalten können. Er will es nicht wissen. So vieles will er nicht wissen, daß er spürt, wie sich in seinem Kopf eine Hand hebt, die ihm die Ohren zuhält, die Augen zuhält. Lieber wäre er blind und taub als zu wissen, was sie von ihm hält. Lieber würde er wie eine Schildkröte in ihrem Panzer leben.
Diese Frau war nicht auf der Welt einzig und allein, um ihn zu lieben und zu beschützen und sich um seine Bedürfnisse zu kümmern. Im Gegenteil, sie hat schon vor seiner Entstehung ein Leben gehabt, ein Leben, in dem sie sich nicht den geringsten Gedanken um ihn zu machen brauchte. Zu einer gewissen Zeit in ihrem Leben hat sie ihn geboren; sie hat ihn geboren und hat sich entschieden, ihn zu lieben; vielleicht hat sie ihn zu lieben beschlossen, noch ehe sie ihn geboren hatte; jedenfalls hat sie ihn zu lieben beschlossen, und daher kann sie beschließen, ihn nicht mehr zu lieben.
»Warte nur, bis du eigene Kinder hast«, sagt sie zu ihm in einer ihrer bittereren Stimmungen. »Dann wirst du es schon merken.« Was wird er merken? Es ist eine von ihr benutzte Formel, eine Formel, die klingt, als stamme sie aus alter Zeit.
Vielleicht sagt das jede Generation zur nächsten, als Warnung, als Drohung. Doch er will es nicht hören. »Warte nur, bis du Kinder hast.« Was für Unsinn, was für ein Widerspruch! Wie kann ein Kind Kinder haben? Jedenfalls ist, was er wissen würde, wenn er Vater wäre, wenn er sein eigener Vater wäre, genau das, was er nicht wissen will. Er will den Blick nicht akzeptieren, den sie ihm aufzwingen will: nüchtern, enttäuscht, desillusioniert.
Neunzehn
Tante Annie ist tot. Trotz der Versprechen der Ärzte ist sie nach ihrem Sturz nie wieder gelaufen, nicht einmal mit einem Stock. Aus ihrem Bett im Volkshospitaal brachte man sie in ein Bett in einem Seniorenheim in Stikland, am Ende der Welt gelegen, wo niemand die Zeit hatte, sie zu besuchen, und wo sie einsam starb. Nun soll sie auf dem Woltemade-Friedhof Nr. 3 beerdigt werden.
Zuerst will er nicht mitgehen. In der Schule hört er genug Gebete, sagt er, mehr möchte er nicht hören. Er äußert frei seine Verachtung für die Tränen, die vergossen werden würden. Mit einem anständigen Begräbnis für Tante Annie wollen ihre Verwandten nur sich selbst ein ruhiges Gewissen verschaffen. Sie sollte in einer Grube im Garten des Seniorenheims begraben werden. Das würde Geld sparen.
In seinem Herzen meint er das nicht wirklich. Aber er muß so etwas seiner Mutter gegenüber äußern, muß beobachten, wie sich ihr Gesicht vor Schmerz und Empörung verkrampft. Was muß er noch alles sagen, ehe sie ihn anfährt und ihm befiehlt, den Mund zu halten?
Er denkt nicht gern an den Tod. Ihm wäre es lieber, wenn die Leute, sobald sie alt und krank werden, einfach aufhören würden zu
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