Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
eisernen Ansichten über sie und ihre Probleme entsprangen.
Viele der Betreuer waren überzeugt, alles zu wissen. Sie hatten vergessen – wenn sie es je gewußt hatten –, daß Antworten selten das gleiche sind wie Wahrheiten.
Diese Betreuer waren ebenso in ihren Meinungen gefangen, wie die Kinder, die sie jede Woche sahen, in der Terminologie ihrer Fallgeschichten gefangen waren. Jeder Beruf braucht ein Referenzsystem und eine Sprache, um es abzubilden, doch die Wahrheit zahlt einen hohen Preis, wenn man nicht andere Möglichkeiten außerhalb der eigenen Beurteilungskriterien miteinbezieht.
«Was ist außerhalb von allem, was wir sehen?» hatte Frank gefragt.
Als ich an jenem Abend mit dem Kombi zur Columbia University fuhr, hoffte ich, das Teleskop könne uns das eine oder andere zeigen.
Ich war selbst noch nie dagewesen. Dr. Motz hatte mich gewarnt, die Atmosphäre über New York sei so verdreckt, daß wir uns schon glücklich schätzen könnten, wenn wir die Venus zu sehen bekämen. Columbia besaß noch ein zweites Teleskop in Südafrika, wo die Sicht für Astronomen natürlich viel besser war. Als ich auf dem Broadway parkte, hatten die Jungen laut zu singen begonnen, außer Frank, der mir später erzählte, er habe vor Aufregung geschwitzt.
Ich führte meine Gruppe zum Pupin Building am Nordrand des Campus, und wir fuhren mit dem Fahrstuhl bis ganz nach oben. Auf der Dachpappe lag ein Lattenrost, darauf verstreut Kieselsteine. Überall um uns herum glitzerten die Lichter der Stadt wie Sterne. Der Wind wehte so stark, daß man kaum die Tür aufdrücken konnte. Die Jungen jauchzten auf, als sie sich um den Eingang zum Observatorium drängten.
Drinnen erwartete uns Dr. Motz’ Assistent. Ein enormer Ausschnitt des Himmels – der Abend war klar, so klar, wie es in New York nur sein kann – war in der Kuppel über uns zu sehen. Der Kuppelausschnitt aus Metall war zurückgeschoben, das riesige Teleskop ausgefahren und auf den Weltraum gerichtet. Der Assistent blickte durch das Okular an der Seite des Teleskops und stellte es furchtbar umständlich ein – es schien eine Stunde zu dauern –, bevor er mich heranwinkte hineinzuschauen. Die Jungen standen stumm hinter mir in dem schummrig erleuchteten Raum. Unaufgefordert hatten sie sich in einer Reihe aufgestellt.
Ich sah durch das Okular und erblickte sofort einen rosenfarbenen, pulsierenden Marshmallow – Wasserdampf, erklärte mir der Assistent später –, der sich als die Venus entpuppte. Dann sah ich die Ringe des Saturn, Gaswolken, eine Unzahl von Sternhaufen und schließlich, ganz nahe, den lieben Mond, von Kratern vernarbt und beruhigend in seiner ungeheuren Ausdehnung. Es kam mir vor, als wäre ich auf einer Schaukel durchs Weltall geschwungen, deren Seile sich aus den unvorstellbaren Tiefen ringsum erstreckten.
Ich trat zurück und winkte die Jungen einzeln heran. Frank war der letzte, und er hielt sein Auge am längsten ans Okular.
Das Ganze dauerte mehr als eine Stunde. Dann liefen wir wieder über das Lattenrost und fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten. Auf der Fahrt zurück nach Sleepy Hollow sagten die Jungen kein Wort. Ich hörte jemanden seufzen.
Es dauerte ein paar Tage, bis ich ihr Schweigen an jenem Abend begriff. Zuerst hatte ich mir vorgestellt, es liege daran, daß sie Dinge gesehen hatten, die größer waren als sie selbst, die ihnen eine neue Sicht auf ihr Leben, auf alles Leben gewährten. Aber inzwischen glaube ich, sie waren still, weil sie im Observatorium der Columbia University zum ersten Mal etwas anderes als sich selbst gesehen hatten.
Auch ich hatte diese Erfahrung zehn Jahre zuvor gemacht. Der Zweite Weltkrieg hatte überall in Europa solche Zerstörung angerichtet, Millionen und Abermillionen Menschen waren dahingemetzelt worden, und doch hatte mein Jahr dort mir etwas jenseits meines eigenen Lebens gezeigt, hatte mich von Ketten befreit, von deren Fesseln ich gar nichts geahnt hatte, hatte mich etwas anderes sehen lassen als mich selbst.
A bbildungsverzeichnis
S. 12
Paul Robeson
S. 14
Billie Holliday
S. 29
Die Schauspielerin Constance Cummings
S. 37
Straßenverkehr im zerstörten London 1946
S. 44
Strebepfeiler von Notre Dame, Paris
S. 49
Mont-Saint-Michel
S. 53
Café Les Deux Magots, Paris
S. 61
Chesire Cheese House, London
S. 70
Straßenbahn in Prag
S. 79
Pferdegespann in zerstörter Straße, Warschau 1947
S. 87
Der polnische Präsident Bolesław Bierut (Zentrum) umgeben von Journalisten auf seiner
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