Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
Rasen, und seine Glastüren boten ein weiteres gefährliches Hindernis, wenn sie des unfreundlichen Wetters wegen geschlossen waren. Dennoch war es eine Erleichterung, über Tage zu sein, heraus aus der engen Küche, weg von den vorhersehbaren Ausbrüchen der drei übellaunigen Köche.
Die männlichen Gäste, die ich bediente, nannten mich «Liebes» oder «Schätzchen». Ihre Frauen oder Freundinnen starrten mich böse an, wenn sie mich überhaupt eines Blickes würdigten. Junge Menschen ignorierten mich, außer wenn sie mich nach unten schickten, um mehr Wasser und Brot zu holen. Ich arbeitete fünf Sommerwochen lang im Hotel und schlief nachts in einer Koje im Angestelltenschlafsaal, der nach zu oft getragenen Socken und unbehandeltem Kiefernholz roch.
Als ich nach New York City zurückkehrte, übernahm ich vorübergehend ein Zimmer von einem Indianer, der zu einem zweiwöchigen Besuch in sein Reservat in Arizona reiste.
Unerklärlicherweise stand mitten im Raum eine Dusche, die an eine wacklige Wahlkabine erinnerte. Wenn ich die Hähne aufdrehte, wehte ein Sprühregen lauwarmen Wassers auf mich herab und an mir vorbei auf den rauhen Fußboden. Unter meiner Matratze bewahrte ich eine kleine Rolle Geldscheine auf, die ich von meinem Lohn und den Trinkgeldern im Hotel gespart hatte. Das reichte für meine Überfahrt nach England und, so schätzte ich, um einen Monat in London über die Runden zu kommen.
Das einzige Fenster des Zimmers war gleich neben dem Bett und ging auf eine rostige Feuerleiter hinaus. Dahinter lag ein schmaler, dunkler Lichtschacht.
Eines Morgens wachte ich früh auf und sah einen jungen Mann auf den Metallstufen hocken, der mich durchs offene Fenster anstarrte – ich hatte es am Abend zuvor aufgerissen. Als er merkte, daß ich wach war und ihn meinerseits anstarrte, bat er mich um eine Zigarette und sagte mit schwerer Zunge, seine seien ihm ausgegangen. Er war blond und dünn, und seine Augen glühten rötlich und wild. Ich hatte eine fast leere, zerknüllte Packung Camels neben dem Bett liegen. Vorsichtig zog ich eine Zigarette heraus, um sie nicht zu zerbrechen, und gab ihm den Rest der Packung; er murmelte «Danke» und kletterte die Feuerleiter wieder hinauf aus meinem Sichtfeld. Ein paar Tage später erfuhr ich von der alten italienischen Vermieterin, daß er eine Überdosis einer Droge genommen habe, die sie nicht nannte, und von einem Rettungswagen ins nächste Krankenhaus gebracht worden sei.
Jahrzehnte später sah ich den Mann mit den roten Augen auf einer Party wieder, die der Maler Wolf Kahn auf einer für den Sommer gemieteten Farm auf Martha’s Vineyard gab. Ich erkannte sein Gesicht vielleicht deshalb sofort wieder, weil er mich so überrascht hatte. Und auch erschreckt, obwohl ich die Angst damals nicht bemerkt hatte. Sie wurde mir erst jetzt bewußt. Wolf verriet mir später, daß er Miles hieß.
Er hatte die Umstände unserer Begegnung vergessen, nicht aber mich. Ich erinnerte ihn an die Zigaretten, die ich ihm gegeben hatte, als er auf der Feuerleiter hockte. Er drückte mir ein fast volles Päckchen in die Hand, während wir auf dem hügeligen Gelände herumstanden. Wir hatten beide den gleichen Impuls: Wir beugten uns vor und umarmten einander, traten dann zurück und standen einige Augenblicke schweigend da, bis Wolfs Frau Emily, ebenfalls Malerin, mit einem Tablett voller Maiskolben zwischen uns trat.
An dem Schiff, auf dem ich nach England reiste, waren nach seinem Kriegseinsatz als Truppentransporter nur minimale Änderungen vorgenommen worden, aber die Unbequemlichkeiten machten mir keine Sorgen – ich bemerkte sie kaum. Ich ließ ein Land hinter mir, das für mich vor allem Kummer bedeutete.
Doch als das Schiff eines Morgens von New York City abfuhr, stellte sich heraus, daß meine Vergangenheit mir wie das Kielwasser folgte. Auf Deck traf ich die greifbaren Geister aller Menschen, die ich je gekannt hatte.
Die Fahrt dauerte sechs Tage. In einer heißen Nacht fühlte ich mich in meiner Koje nicht wohl und ging zum Schlafen an Deck. Ich stieß auf eine große Gruppe von Menschen in Nachtwäsche, alle mit einem Kissen und einer dünnen Decke bewaffnet wie ich, die sich unter dem sternenglänzenden Himmel unterhielten und lachten, manche aufs Deck hingestreckt oder auf die Ellbogen gestützt, andere sitzend, die Knie umklammernd. Etliche unter ihnen wollten nach Jugoslawien, um an der «Eisenbahn der Jugend» mitzuarbeiten, nur für die gute Sache.
Einer
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