Der kälteste Winter: Erinnerungen an das befreite Europa (German Edition)
von denen, die ich kannte – ein Achtzehnjähriger namens Kurt –, vertraute mir in jener Nacht an – oder prahlte vielmehr damit –, daß er eine ältere Geliebte habe, dreißig Jahre alt, und daß sie beim Abschied geweint habe. Er war ein magerer Junge, beredt und gut aussehend, auf bestem Weg, ein Verführer zu werden. Als ich in jener Nacht neben ihm saß – beide unter unseren Decken, denn an Deck war es kalt – und wir uns mit vorübergehender Intimität unterhielten, hätte ich mir kaum vorstellen können, daß ich ihn vierzig Jahre später in einem italienischen Kulturzentrum wiedersehen würde, in dem Tagungen und Konferenzen abgehalten wurden.
Wir erkannten einander, erinnerten uns aber an verschiedene Versionen der Ereignisse. Er verriet einem Besucher der Bankertagung, an der er teilnahm, daß ich ihn damals auf dem Schiff in eine Affäre zu verwickeln versucht hätte. Ich war froh, ihn zu sehen, und erinnerte mich, wie er auf der Überfahrt von seiner älteren Geliebten erzählt hatte. Die ganzen fünf Tage der Konferenz lächelte er mich aus der Ferne an. Nachdem ich erfahren hatte, welche angeblichen Erinnerungen er zum besten gegeben hatte, erwiderte ich sein Lächeln nicht mehr. Ich fragte ihn nicht, wie es ihm in Jugoslawien und bei der Eisenbahn der Jugend gefallen hatte.
Eines Morgens begannen Möwen das Schiff zu umkreisen. Einige Stunden später liefen wir in Southampton ein. Von dort nahmen die meisten von uns den Zug nach London.
L ondon
I n dem Sommer, den ich größtenteils in London verbrachte, lebte ich unterschiedlich lange – einige Wochen oder Monate – bei drei Ehepaaren. Mein Vater hatte mir die Namen von Benn Levy und seiner Frau Constance Cummings mitgegeben. Benn war ein alter Freund aus seinen Tagen als Drehbuchschreiber in Hollywood.
Die beiden anderen Paare – Nan und ihren Mann Ted sowie einen Journalisten namens Claude mit seiner Frau Pat – hatte ich über Maggie kennengelernt, eine eher flüchtige Bekannte, die, wie es hieß, für den britischen Geheimdienst arbeitete. Auch wenn die beiden letzteren Paare sich in Herkunft und Lebensumständen unterschieden, teilten sie doch die linke Weltanschauung. Sie waren alle freundlich zu mir. Niemand versuchte auch nur im geringsten, mir seine Ansichten aufzudrängen – sehr wahrscheinlich, weil mich keiner von ihnen als politische Person ernst nahm.
Nan, die Tochter eines Pfarrers, und der Waliser Ted lebten in Wandsworth, einem Arbeiterbezirk Londons. Nan war bereits einmal verwitwet. Ihr erster Mann George hatte sich freiwillig den Republikanern im Spanischen Bürgerkrieg angeschlossen und war in der Schlacht am Ebro gefallen. Von ihm hatte sie zwei Kinder – Martin und Frances –, die jetzt mit ihr und Ted in einer öden Wohnsiedlung lebten, die, so schien es mir, über Nacht hochgezogen worden war, nachdem ein Bombenangriff die vorher dort stehenden Häuser zerstört hatte.
Die Wohnung war klein und kärglich ausgestattet. Eine schmale Treppe führte zu zwei winzigen Zimmern im zweiten Stock; in einem davon schlief ich.
Ich mochte Nan, ihren vierzehnjährigen Sohn Martin und seine jüngere Schwester Frances, doch bei Ted, der in einem Londoner Gaswerk arbeitete, hatte ich gemischte Gefühle. Er benahm sich mir gegenüber sehr kühl und lakonisch. Mit Nan sprach er in meiner Gegenwart selten, als sei ihre Beziehung ein Geheimnis.
Noch siebenundfünfzig Jahre später sehe ich Frances durch die halboffene Badezimmertür, wie sie in der nur sparsam gefüllten kleinen Wanne sitzt. Rosig und rund, hält sie ein Stück Seife in ihren hübschen, dicken Händen, als hätte sie es gerade aus dem Wasser gefischt. Sie lächelt abwesend über eine Bemerkung von mir, als ich auf dem Weg zur Küche an der Tür vorbeigehe.
Den größten Teil des Jahres waren die Kinder nicht zu Hause, sondern in Summerhill, einem experimentellen Internat in Südengland. (Ich weiß nicht mehr sicher, wann der Ausdruck «progressiv» Eingang in die Alltagssprache fand.) Die Schule wurde von einem Mann namens A.S. Neill geleitet, der von Frances und Martin nur Neill genannt wurde. «Leiten» ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn soweit ich mitbekam, konnten die Schüler in Hinsicht auf Klassen und Fächer tun und lassen, was sie wollten.
Arbeit fand ich zunächst im Londoner Büro der 20 th Century Fox, wo ich eine Weile Manuskripte auf ihr Filmpotential hin prüfte. Eine regelmäßigere Beschäftigung bekam ich dann bei dem Verleger
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