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Der Kaiser von China

Der Kaiser von China

Titel: Der Kaiser von China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tilman Rammstedt
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sich entschuldigen, da habe sie sich wohl wirklich in mir geirrt, und ich würde nicken und sagen: »Sieht so aus.«
    Entschlossen legte ich mich ins Bett, und entschlossen stand ich am nächsten Morgen auf, ging ins Haus hinüber und setzte mich zu meinem Großvater an den Frühstückstisch. »In Ordnung«, sagte ich, und mein Großvater sah kaum von seiner Zeitung auf, biss in sein Brötchen und kaute so langsam, dass meine Entschlossenheit schon wieder nachließ. »Was ist in Ordnung?«, fragte er schließlich, während er geräuschvoll eine Seite umblätterte. Ich nahm ihm die Zeitung aus der Hand. »In Ordnung, wir fahren«, sagte ich dann und wartete darauf, dass die Erleichterung einsetzte.

Peking, den 16. Mai
    Meine Lieben,
    Peking ist wirklich schön, aber unglaublich anstrengend.
    Besonders der Lärm macht einem zu schaffen, überall wird geschrien , alles hupt und dudelt und klingelt und rasselt. Der Verkehr ist maßlos, Autos, Fahrräder, Mopeds, sogar Esel drängen sich auf den Straßen. Großvater und ich sprechen nicht viel, wenn wir unterwegs sind. »Laut hier«, schreit einer von uns manchmal, der andere schreit dann: »Ja«, und dann ist man wieder still. Irgendwer muss das hier schließlich mal sein.
    Wie Ihr Euch denken könnt, hatte ich mir für unsere drei Tage hier in Peking ein straffes Besichtigungsprogramm zurechtgelegt, aber Großvater zeigte sich von meinen Plänen so wenig begeistert, dass ich große Teile wieder gestrichen habe. Heute waren wir deshalb lediglich in der Verbotenen Stadt. Die majestätischen drei großen Hallen (Halle der höchsten Harmonie, Halle der Harmonie der Mitte, Halle der Harmonie des Randes) schritt Großvater mit gelangweiltem Blick ab (»Protzig« nannte er den Kaiserthron, »Unglaubwürdig« den großen Drachenreliefstein), im Tausend-Herbste-Pavillon war ihm zu kalt, in der Halle der Geistespflege behauptete er, dass es bei ihm da nichts zu pflegen gebe. Die Uhrensammlung ließ ihn dann aber doch zunächst staunen, wenn er es auch nicht lassen konnte, die anderen Besucher zu fragen, ob sie vielleicht wüssten, wie spät es sei. Es gibt dort riesige Uhren in Form von Elefanten, schwimmende Uhren in Form von Karpfen, winzige Uhren in Form von Blattläusen. Es gibt Uhren, die einen mechanischen Roboter dazu bewegen, jede Stunde mit einem kleinen Pinsel chinesische Schriftzeichen zu malen, wunderschöne Gedichte sollen das sein, es gibt Uhren, aus denen bis acht Uhr eine goldene Rose wächst, die bis sechzehn Uhr blüht und bis Mitternacht wieder eingegangen ist, es gibt Uhren, die rückwärtsgehen, und Uhren, die seitwärtsgehen , und Uhren, die gar nicht gehen, weil sie angeblich genau zum Todeszeitpunkt des Kaisers Xianfeng stehen geblieben sind.
    Irgendwann war Großvater müde, ich setzte ihn in der Starbucks-Filiale neben der Uhrensammlung ab und besichtigte den Rest der Verbotenen Stadt alleine. Als ich ihn anschließend abholen wollte, war er verschwunden. Nach langem Suchen fand ich ihn schließlich im Palast der Himmlisch-männlichen Klarheit. Er saß mit geschlossenen Augen auf einer Stufe, umspült von Touristengruppen, neben sich zwei Kaffeebecher. Als ich ihn anstieß, winkte er freudig und hielt mir einen der Becher hin. Der Kaffee war längst kalt, aber ich trank ihn dennoch, um Großvater nicht zu enttäuschen. Wir saßen dort, bis der Palast geschlossen wurde, schwankten hin und her, um all den Knien und Taschen auszuweichen, und nippten noch an unseren Bechern, als sie längst leer waren.
    »Wir sind tatsächlich in China«, sagte Großvater dann auf dem Heimweg, und ich sagte: »Wahrscheinlich.«
    Jetzt ist es kurz nach zehn (also kurz nach zwei bei Euch).
    Großvater macht noch einen Spaziergang, der Kaffee habe ihn ganz unruhig gemacht, sagt er. Ich habe aufgegeben, ein Internetcafe zu suchen, bin allein im Hotel geblieben und schreibe Euch nun, auf dem Bett sitzend, weil auf dem kleinen Schreibtisch kein Platz mehr ist, Großvater hat dort jede Menge Fotos von Euch allen aufgestellt. Von draußen weht noch der unermüdliche Lärm Pekings durchs offene Fenster.
    Ich vermisse und umarme Euch, K.

Am Frühstückstisch hatte mich mein Großvater nur verwundert angesehen. »Natürlich fahren wir«, hatte er gesagt und dann wieder in sein Brötchen gebissen, und ich war empört, dass mein plötzliches Einverständnis nicht richtig gewürdigt wurde, dass er meine Entschlossenheit offenbar gar nicht zur Kenntnis nahm. »Ich schlafe mit der Frau,

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