Der Kaiser von China
fiel die 30, und ich nahm noch mehr Scheine aus dem Umschlag, Franziska verfolgte das alles schon leicht schwankend und mit glasigem Blick, es fiel die 35, es fiel die 7, es fiel schon wieder die verdammte 11, und das konnte doch nicht sein, die 22 konnte doch nicht sein, die 19 konnte nicht sein, nicht die 8, aber es kam die 8, und ich knüllte den Umschlag zusammen. In Sekundenschnelle nüchterte ich aus, der Kopfschmerz kam und der säuerliche Geschmack im Mund. »Schade«, sagte Franziska, »vielleicht klappt es ja morgen«, und sie bestellte sich noch einen Cocktail, von dem ich nicht wusste, wie wir ihn bezahlen sollten. Wohin es denn nun als nächstes gehe, fragte sie und strahlte mich an. Nirgendwohin, sagte ich, ich sei sehr müde, und Franziska verzog das Gesicht. Unter einer richtigen Feier habe sie sich etwas anderes vorgestellt, und ich stimmte ihr ein letztes Mal an diesem Tag zu.
Am nächsten Morgen rief ich meinen Großvater an. Ich wollte das am liebsten am Telefon erledigen. Da sei nichts zu machen, sagte ich, »leider«, sagte ich, alle Flüge seien schon ausgebucht und dass wir frühestens in vier Wochen fliegen könnten, auch wenn wir das selbstverständlich nicht konnten, das Geld war weg, es würde auch in vier Wochen noch weg sein, und ich ärgerte mich bereits, dass ich nicht vier Monate gesagt hatte, dass ich nicht ein halbes Jahr gesagt hatte, nicht »auf unbestimmte Zeit«, Maul-und Klauenseuche, widersprüchliche Einreisebestimmungen, Warnungen des Auswärtigen Amts, ausgerechnet jetzt, ja, ich weiß, ich sei auch enttäuscht.
Mein Großvater schien jedoch gar nicht enttäuscht zu sein, er war auch nicht aufgebracht oder verzweifelt. »In vier Wochen kann ich nicht«, sagte er nur, und er sagte es so sachlich, dass ich hoffte, damit sei die ganze Geschichte mit China endgültig vom Tisch, vielleicht würde man trotzdem zwei, drei Tage verreisen, ans Meer zum Beispiel, das war auszuhalten, beinah freute ich mich sogar darauf, doch dann sagte er noch einmal: »Da kann ich nicht, das ist einfach zu spät«, unbedingt müssten wir vorher fahren, sagte er, und ich hörte, wie er im Zimmer auf und ab lief. Das sei aber nun einmal leider unmöglich, behauptete ich, es gebe einfach keine Flüge mehr. »Dann fahren wir halt mit dem Auto«, sagte er, und erschreckend schnell war mir klar, dass er das ernst meinte. »Man kann nicht mit dem Auto nach China fahren«, sagte ich deshalb so ruhig wie möglich, aber mein Großvater wollte davon nichts wissen, natürlich könne man das, schließlich gebe es auf dem Weg nirgendwo ein Meer, und so weit werde die Strecke schon nicht sein. »Achttausend Kilometer«, sagte ich, »Luftlinie.« »Na, siehst du«, sagte mein Großvater, und ich ahnte schon, dass ihm diese Idee nun nicht mehr auszureden wäre. »Du darfst nicht Auto fahren«, sagte ich trotzdem, auch wenn das wohl das kleinste seiner Probleme sein würde und er sich ja ohnehin selten an dieses Verbot hielt. Ein guter Fahrer war mein Großvater nie gewesen, alle paar Jahre hatte er früher einen neuen Wagen gebraucht, weil natürlich keine Versicherung für irgendetwas aufkam. Als er sich das nicht mehr leisten konnte, fing er an, nie schneller als dreißig zu fahren, das konstante Hupen der anderen Verkehrsteilnehmer nahm man bald nicht mehr wahr. Selbst auf der Autobahn erhöhte er die Geschwindigkeit nicht. »Warum müssen alle nur immer so hetzen?«, fragte er, während er auf dem Standstreifen vorankroch , und man antwortete besser schnell, dass man das auch nicht wisse.
Nie hat er sich davon überzeugen lassen, einen Wagen mit Automatikgetriebe zu kaufen, das sei nur etwas für Senioren, behauptete er und ließ lieber weiterhin bei jedem Schalten mit seiner einzigen Hand das Lenkrad los oder bat uns Enkel, es kurz zu halten, während er den Spiegel justierte oder im Radio langwierig einen neuen Sender suchte. Schon in frühen Jahren musste deshalb mindestens einer von uns auf dem Beifahrersitz Platz nehmen oder sich sogar, wenn mein Großvater bei längeren Strecken müde wurde, selbst ans Steuer setzen. Sobald wir mit unseren Füßen die Pedale erreichten, hatte er uns Fahrstunden gegeben, immer nachts auf verwaisten Supermarktparkplätzen. »Es ist im Grunde wie Fahrradfahren«, erklärte er uns, nur dass man im Auto nicht so aufpassen müsse.
Uns gefielen, bei aller Müdigkeit, die nächtlichen Fahrstunden, schließlich ahnten wir noch nicht, dass mein Großvater damit einen ganzen
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