Der Kaiser von China
daran konnten auch die Akrobaten nichts ändern, die dann noch einmal auf die Bühne stürmten, um mit irgendwelchen improvisierten Formationen vom missglückten Finale abzulenken.
Auch an den Nachmittagen, erzählte Großvater, umgab Lian nun eine beklemmende Schwermut, die sich vor allem in ihrem Essverhalten niederschlug. Nur mit großer Mühe gelang es Großvater, Lian einige wenige Löffel Eis aufzudrängen, ein halbes Stück Kuchen, vielleicht eine Handvoll Kartoffeln. Die Zahl ihrer Kinne nahm rapide ab, der Seidenumhang warf immer mehr Falten, Lian sprach wenig, so wenig, dass Hu sich genötigt sah, das Schweigen immer mal wieder mit einem »Die Weltsensation Lian lässt Ihnen noch immer nichts ausrichten« zu unterbrechen.
Und irgendwann hielt Großvater diese Stimmung nicht mehr aus. »Komm, wir fahren weg, irgendwohin, wo du schon immer einmal hinwolltest«, schlug er vor, doch Lian zuckte nur mit den Schultern. Sie sei überall schon gewesen, sagte sie. »Dann kaufen wir dir das, was du dir schon immer einmal gewünscht hast«, aber auch darauf reagierte Lian gleichgültig, sie wolle nichts mehr haben, sagte sie. Großvater schlug noch vieles vor, aber Lian hatte alles schon gegessen, was sie einmal essen wollte, sie hatte alles schon gerochen, was sie noch einmal riechen wollte, alles schon geklärt, was es zu klären gab, sie hatte alles schon gesagt, alles schon gehört, alles schon gespielt, alles schon beteuert, alles schon berichtigt, alles schon gefühlt. »Gibt es denn da gar nichts«, fragte Großvater, »nicht einen einzigen unerfüllten Wunsch?«, und Lian betrachtete lange die Kartoffeln in ihrer Hand, dann lächelte sie auf einmal und flüsterte etwas. Großvater sah, wie Hu sich in die Wangen biss, um nicht laut aufzulachen. » Lian erinnert sich gerade«, sagte Hu dann so beherrscht wie möglich, »wie sie als Kind immer davon geträumt hat, einmal Seiltänzerin zu werden.« Und Großvater wusste nicht, was daran wohl zum Lachen sein sollte, er nickte ernst. »Du wirst seiltanzen«, sagte er dann und wartete gar nicht ab, bis Hu das übersetzt hatte. »Du wirst schon am Ende dieser Woche seiltanzen, das wird das größte Finale sein, das es im Variete jemals zu sehen gab, das Publikum wird dir so laut zujubeln, dass wir Ohrenschützer verteilen müssen, noch Tage, was sage ich, noch Wochen später werden sie klatschen.« Großvater konnte gar nicht aufhören mit seinen Versprechungen, so froh war er, endlich ein Ziel gefunden zu haben, einen Ausweg gefunden zu haben, statt nur noch abzuwarten und tatenlos mit anzusehen, wie Lian verendete, wie das Massiv von Macau vor seinen Augen zerbröckelte.
Hu kam mit dem Übersetzen kaum hinterher, und auch er wurde immer lauter, immer ausschweifender, sodass Großvater sogar vermutete, er würde dem Gesagten noch weitere Dinge hinzufügen. Lian hörte all dem ungerührt zu, dann schüttelte sie nur langsam den Kopf. Doch Großvater nahm das Kopfschütteln nicht hin, schon damals ließ er sich von so etwas offenbar wenig beeindrucken. »Morgen fangen wir an«, sagte er und sprang auf, um sofort mit den Vorbereitungen zu beginnen. »Schlaf dich gut aus, das wird ein anstrengender Tag«, rief er noch, dann verließ er den Hof, das Theater, und erst ein paar Straßen weiter merkte er, dass er vor sich hin pfiff.
Großvater gähnte schon wieder und ließ sich tief in den Beifahrersitz hinab, die Augen hatte er geschlossen. »Wehe, du schläfst jetzt ein«, sagte ich und drehte die Lüftung so weit auf, wie es ging. »Und wenn schon«, sagte Großvater, »ich kenne die Geschichte so gut, dass ich sie auch im Schlaf erzählen kann«, und tatsächlich zuckte er während seiner Erzählung immer mal wieder ruckhaft zusammen, hin und wieder entfuhr ihm auch ein Schnarchen, aber er erzählte ohne nennenswerte Pausen, im Gegenteil, die Worte flossen ineinander, und nur manchmal verschluckte er ein paar Endsilben.
Am nächsten Tag sei er schon früh in den Hof gekommen, berichtete er, während ich konzentriert auf die schnurgerade Straße vor mir blickte. Auch wenn es noch gar nicht viel vorzubereiten gab, denn es galt, behutsam anzufangen, und als ersten Schritt wollte er Lian nur einmal mit dem Seil vertraut machen. Er legte es diagonal von einer Ecke des Hofes zur gegenüberliegenden auf dem Boden aus, und als Lian am frühen Nachmittag auf ihrem Diwan hereingezogen wurde, forderte er sie schon nach wenigen Löffeln Eis dazu auf, doch nun ein paar Schritte
Weitere Kostenlose Bücher