Der Kaiser von China
er. »Ich habe keine Zeit mehr für Österreich«, sagte er, und jetzt war ich es, der schwieg, denn ja, bei genauer Betrachtung wollte auch ich nicht nach Österreich, jedenfalls nicht mit meinem Großvater, bei genauer Betrachtung wollte ich nirgendwo hin mit ihm, auf keinen Berg, an keinen Strand, in keine Wüste, kein Museum, kein Thermalbad, ich wollte nicht unnötig lange in zweisprachigen Speisekarten mit ihm blättern, auf keinen Aussichtspunkten mit ihm schweigen, nicht abends beim Wein lächerlich früh behaupten, dass man vom vielen Laufen ganz erschöpft sei, um ja keine Gelegenheit zuzulassen, in der man endlich einmal wieder Zeit füreinander hatte, und vielleicht war China bei genauer Betrachtung der einzig vernünftige Vorschlag, weil einem dort wahrscheinlich selbst zweisprachige Speisekarten wenig halfen, weil man dort abends beim Reiswein wahrscheinlich tatsächlich erschöpft war, weil es dort nicht so schlimm wäre, sich nicht zu verstehen, weil man auch alles andere nicht verstand, und wahrscheinlich gäbe es dort von allem viel zu viel, nur keine Zeit füreinander, und am Ende wüsste man bestenfalls gar nicht mehr, wofür man die auch hätte gebrauchen können, alles Unausgesprochene zwischen uns hätte sich mit China gefüllt, und mir fiel auf einmal wieder ein, wie ich als Kind ein paar Tage lang geglaubt hatte, dass mein Großvater ein Chinese sei.
Er muss sich mal wieder mit einer meiner Großmütter gestritten haben, welche, weiß ich nicht mehr, jedenfalls war es sehr laut, und irgendwann rief er: »Und ich bin der Kaiser von China.« Sein Amt beeindruckte mich damals weniger als seine Herkunft, und ich erzählte es überall herum, nicht alle glaubten mir. Warum ich dann nicht aussähe wie ein Chinese, wurde ich gefragt, und ich sagte: »Das kommt noch«, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie Chinesen eigentlich aussahen. Alle gleich, wurde behauptet, und ich stellte mir ein Land vor, in dem es von meinem Großvater nur so wimmelte, in dem in jedem Auto mein Großvater saß, in dem morgens aus jedem Haus mein Großvater trat, sich von meinem Großvater verabschiedete, um seine Kinder, fünf sehr kleine Großväter, zur Schule zu bringen. Ein paar Tage später kam die Wahrheit dann ans Licht. »Du bist kein Chinese«, sagte ich zu meinem Großvater. »Wie du meinst«, sagte er.
Damals gefiel mir die Vorstellung von einem Land voller Großväter noch, doch jetzt am Telefon erschien sie mir schrecklich, ein einziger reichte mir, ein einziger war mir eigentlich schon zu viel, und darum ging es, nicht um China oder Korfu oder Österreich.
»Bist du noch da?«, fragte jetzt er, und jetzt war ich es, der sagte: »Ja, noch bin ich da«, dann legte ich auf.
Ich bin mir nicht sicher, mit wie vielen meiner Geschwister ich tatsächlich verwandt bin. Es ist aber davon auszugehen, dass ich mit den meisten von ihnen zumindest ein Elternteil gemeinsam habe. Noch dunkel kann ich mich an die Geburt meiner jüngeren Schwester erinnern, ich war damals vier, und wir besuchten alle gemeinsam meine Mutter im Krankenhaus. »Da seid ihr ja«, rief sie mit noch etwas schwacher Stimme, doch später wurde deutlich, dass sie beim Namen meines zweitältesten Bruders lange überlegen musste, und auch meine ältere Schwester betrachtete sie immer so zaghaft, als sei sie sich nicht ganz sicher, dieses Mädchen schon einmal gesehen zu haben.
Ich kann also nur unterstellen, dass es sich bei dieser Frau im Krankenhaus um meine leibliche Mutter gehandelt hat, und außer diesem Leiblichen damals hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Schon seit frühester Kindheit wohnte ich bei meinem Großvater, dem ich natürlich auch nur unterstellen kann, dass er mein leiblicher Großvater ist. Es besteht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und meiner Mutter, das Kinn, die kurzen Finger, das muss genügen, allen weitergehenden Fragen wich er stets aus. Als ich einmal ein Foto bei ihm fand, das ihn als jungen Mann mit einem Mädchen auf den Schultern zeigt, fragte ich ihn, ob das meine Mutter sei. Er nahm das Foto, betrachtete es kurz mit zusammengekniffenen Augen, dann gab er es mir zurück und sagte: »Wahrscheinlich.«
Mein Großvater hielt vieles für wahrscheinlich, dass noch Milch da war, dass bald Sommerferien seien, dass in Australien das Wasser verkehrt herum abfließe, er verkroch sich ganz und gar in seine Wahrscheinlichkeiten, manchmal nannte er auch die dazugehörigen Prozentzahlen, ganz sicher könne man sich bei
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